Wintersport

Ausgrenzung im Idyll

Seit mehr als 100 Jahren ist Davos ein beliebtes Ferienziel auch für jüdische Gäste. Doch es häufen sich Fälle von Antisemitismus. Ein Besuch vor Ort

von Nicole Dreyfus  22.02.2024 10:39 Uhr

Pause am Hang: ein orthodoxes Paar unterhalb des Jakobshorns südlich von Davos Foto: Nicole Dreyfus

Seit mehr als 100 Jahren ist Davos ein beliebtes Ferienziel auch für jüdische Gäste. Doch es häufen sich Fälle von Antisemitismus. Ein Besuch vor Ort

von Nicole Dreyfus  22.02.2024 10:39 Uhr

An der Bahnstation »Davos Dorf« steigen an diesem Februarmorgen nur wenige Skifahrer aus dem Zug. Die meisten sind schon oben auf der Piste, entweder auf der Parsenn oder auf dem Jakobshorn. Das sind die beiden großen Skigebiete, die Davos flankieren. Sowohl im Zug als auch in der Gondel hört man Englisch, Deutsch, Französisch und manchmal auch Jiddisch. In einigen Regionen der Schweiz sind diese Woche Ferien, für die meisten geht es in die Berge.

Auch etliche jüdische Familien pflegen diese Tradition und verbringen ein, zwei Wochen im Schnee in sonniger Höhe. Bei vielen, egal ob orthodox oder säkular, ist Davos das Sinnbild einer entspannten Winterauszeit. Doch die hat in diesen Tagen einen Dämpfer erhalten.

Das Hotel-Restaurant an der Bergstation Pischa ist in die internationalen Schlagzeilen geraten. Der Besitzer hatte ein Schild in hebräischer Sprache angebracht. Darauf war zu lesen, dass keine Schlitten mehr an jüdische Gäste vermietet würden. Kurz darauf bat er um Entschuldigung – doch lediglich für die »unglückliche Formulierung«.

Sicherheitsbedenken und Ärger

Gegenüber den Medien erklärte er, seine Entscheidung, das Schild anzubringen, habe nichts mit der Religion zu tun, sondern mit Sicherheitsbedenken und dem Ärger, wenn Gäste in Turnschuhen Ausrüstung ausleihen und dann Schlitten auf der Piste stehen lassen würden.

Der Aushang ist inzwischen entfernt worden, doch der Schaden war angerichtet. Einmal mehr hat Davos einen Antisemitismus-Skandal. Offensichtlich stört dies aber nur die wenigsten.

Vor Kurzem wollte der Besitzer eines Hotels keine Schlitten mehr an Juden verleihen.

In den Bündner Wintersportort kommen Jahr für Jahr sowohl orthodoxe Touristen als auch nichtreligiöse jüdische Gäste. Im Winter bedeutend weniger als im Sommer. Sie laufen Ski, machen Schneewanderungen oder genießen einfach nur die gute Luft, für die der Kurort berühmt ist. Schon Thomas Mann ließ sich von Davos inspirieren. Anfang der 1920er-Jahre schrieb er seinen Roman Zauberberg, angeregt von der Atmosphäre in einem örtlichen Sanatorium, in dem seine Frau eine Lungenkrankheit auskurierte.

Mit 1560 Metern über dem Meeresspiegel ist Davos die höchstgelegene Stadt Europas. Doch nicht nur im Ausland schätzen jüdische Gäste den Ort, auch zahlreiche Zürcher wie zum Beispiel Ronny Rosenblatt kommen zum Wintersport nach Davos. Der 45-Jährige steht mit seiner Familie und ein paar Freunden am Skilift Bünda und wartet auf seine Kinder, die gleich ein kleines Skirennen fahren werden.

Davos – ein zweites Zuhause

Davos sei für ihn wie ein zweites Zuhause, sagt er. »Schon meine Großeltern hatten hier eine Ferienwohnung. Ich bin quasi hier aufgewachsen.« So sei es naheliegend, dass auch er regelmäßig mit seiner Familie hierherkommt. Auch wenn er Davos nicht als malerischen Ort bezeichnen würde, seien doch Natur, Skigebiet und Infrastruktur sehr attraktiv. »Und natürlich sind die jüdischen Einrichtungen ein Nice-to-have. Wenn ich am Freitag hier meine Challa bekomme, bin ich glücklich.«

Doch auch Rosenblatt wird nachdenklich, wenn es um die wiederaufgeflammte Judenhass-Debatte geht. »Dass Antisemitismus so konkret artikuliert wird, beschäftigt mich.« Natürlich müssten gewisse Anstandsregeln eingehalten werden, auch von orthodoxer Seite. Doch sei nicht jeder Kurgast dazu verpflichtet, seinem Gegenüber »Grüezi« zu sagen, findet der dreifache Familienvater. »Wer grüßt schon in New York oder London?« Früher sei Tourismus als Fremdenverkehr bezeichnet worden. Der Gastgeber müsse also mit dem Fremden umgehen können, ist Rosenblatt überzeugt.

Es trage eben nun einmal nicht jeder Tourist Funktionsunterwäsche oder die neuesten Wanderschuhe, wie sich das vielleicht gewisse Leute aus der Branche wünschen. »Es gibt nicht den perfekten Touristen.« Gerade ein weltgewandter Ort wie Davos müsse dies akzeptieren. »Genießen kann ich den Urlaub trotzdem.«

Rosenblatts Freund Guy Langsam sieht dies ähnlich. Auch er macht mit seiner Frau und den Kindern Urlaub in Davos und liebt es, dort Ski zu fahren. »Doch ich frage mich, ob wir hier in Zukunft noch Urlaub machen sollen. Denn Ausgrenzung ist mit nichts zu legitimieren.« Er sei es gewohnt, sich anzupassen, für ihn sei klar, wo er öffentlich eine Kippa tragen kann und wo nicht. Aber er habe selbst auch schon antisemitische Bemerkungen hören müssen, zum Beispiel, als es um eine Ferienwohnung ging. Dies sei sehr verletzend.

Erneuter Fall von Antisemitismus

Dass Antisemitismus und Rassismus in Davos keinen Platz haben, wird von offizieller Seite immer wieder bekräftigt. Doch ein erneuter Fall von Antisemitismus ereignete sich einige Tage später an einer Bushaltestelle. Ein 40-jähriger Deutscher, der in Davos lebt, griff einen jungen orthodoxen Juden verbal an, worauf dieser ihn zur Rede gestellt habe. Die Polizei ermittelt.

Von Bünda geht es den fast vier Kilometer langen Winterwanderweg entlang in Richtung Talstation Jakobshorn. Später, am Nachmittag, wird die Sonne westwärts hinter den Bergen verschwinden. Noch steht sie im Zenit und beleuchtet das großzügige Tal mit seiner schönen Bergkulisse auf beiden Seiten. Orthodoxe Feriengäste spazieren hier ebenso auf dem mittlerweile schon sulzigen Schnee wie Wintergäste mit Hunden oder Familien, die Kinder auf Schlitten hinter sich herziehen.

Unterhalb des Skilifts Jakobshorn sitzt ein junges orthodoxes Paar auf einer Parkbank. Es ist warm, fast zu warm an diesem Tag im Februar. Das Paar lässt den Blick in die Ferne schweifen. Kinder jeden Alters, ältere Skifahrerinnen und Skifahrer sehen aus der Ferne wie Ameisen aus. »Mir gefällt es hier unglaublich gut«, sagt die Frau. Sie ist Engländerin, ihr Mann kommt aus Israel.

Seit sechs Jahren reisen sie oft im Sommer in die Schweiz. Es ist das erste Mal, dass sie im Winter hergekommen sind. Die Frau würde gern mit dem Skifahren beginnen. Ob sie es schon einmal versucht habe? Nein, aber es würde sie reizen. Doch die Zeit fehle, sie sind nur für vier Tage hier, und dazwischen ist Schabbat. Die Frage, ob das Gespräch aufgezeichnet werden dürfe, verneint das Paar. Sie wollen anonym bleiben – wie so viele jüdische Feriengäste in Davos.

Einst kamen auch viele jüdische Lungenkranke zur Kur in den Bergort.

Vom Antisemitismus-Fall auf der Pischa-Bahn haben die beiden nichts mitbekommen. Dies sei offenbar an ihnen vorbeigegangen. Dass so etwas vorkomme, sei für ihn unbegreiflich, sagt der Mann. Er habe in all den Jahren, die er nach Davos gekommen ist, noch nie den Eindruck gehabt, dass Juden unerwünscht seien. Im Gegenteil, »die Leute sind nett hier«, sagt die junge Frau.

»Nun ja, wenn im Sommer so viele orthodoxe Juden nach Davos kommen, dann wirkt das womöglich abschreckend«, gibt sie zu bedenken. Man müsse sich an gewisse Gepflogenheiten halten, das sei selbstverständlich. Sie kommen immer gern hierher, sagen die beiden, die Landschaft sei so unfassbar schön, und es sei so angenehm, dass es in Davos eine derart gute koschere Infrastruktur gebe.

Keine offizielle jüdische Gemeinde

Teil dieser Infrastruktur ist Rafael Mosbacher. Der orthodoxe Jude führt in Zürich ein Catering-Unternehmen und ist im Nebenberuf eine Art kultureller Vermittler in Davos. Er verbringt viel Zeit hier, vermietet Wohnungen und schult die Ortsansässigen im Umgang mit orthodoxen Feriengästen. Eine offizielle jüdische Gemeinde gibt es in Davos nicht.

Von den jüdischen Touristen wird Mosbacher liebevoll »Rosch HaKehila« genannt, Vorsteher der jüdischen Gemeinde. Seit dem hebräischen Schild an der Bergstation Pischa klingelt bei Mosbacher das Telefon ununterbrochen. Für die Jüdische Allgemeine nimmt er sich Zeit. Ihm ist eine Botschaft sehr wichtig: »Man darf niemanden an den Pranger stellen.« Der Aushang am Bergrestaurant Pischa habe ihn ebenfalls entsetzt, »aber ich lasse mir mein Davos nicht kaputt machen«.

Außerdem brauche Davos die jüdische Gesellschaft und umgekehrt. »Gewisse Scharfmacher gibt es immer, genauso wie einzelne Leute, die sich nicht entsprechend anständig benehmen.« Wenn sich eine jüdische Person falsch verhalte, dann werde das immer sofort auf die ganze jüdische Gemeinschaft ausgeweitet, wie jetzt bei der Schlittengeschichte. »Aber man darf nicht verallgemeinern und Juden in Kollektivhaft nehmen, genauso wenig wie die Davoser.«

Mosbacher ist sich dessen bewusst, dass eine derart große Anzahl jüdischer Feriengäste, wie sie vor allem im Sommer in Davos anzutreffen ist, manche in der Bevölkerung verunsichert. Ein bis zwei Fälle gebe es pro Saison, wo unschöne Äußerungen gegenüber jüdischen Mietern gemacht würden. »Manche Zweitwohnungsbesitzer stören sich an Juden. Es kommt auch immer wieder vor, dass jüdische Gäste eine Ferienwohnung mieten möchten und die andere Person am Telefon sagt: ›An Juden vermiete ich nicht, weil ich schlechte Erfahrungen gemacht habe.‹ Aber das sind Einzelfälle.«

Begehrter Ort zum Urlaubmachen

Es habe sich herumgesprochen in der jüdischen Community, dass Davos ein begehrter Ort zum Urlaubmachen ist, sagt Mosbacher. »Wir haben hier eine Synagoge und eine Mikwe, das Schwimmbad ist im Sommer einmal pro Woche nur für jüdische Gäste geöffnet. Zuerst für Männer, danach für Frauen. Koscheres Essen ist erhältlich. All das macht das jüdische Leben hier sehr angenehm.«

Er liebe Davos, sagt der 73-Jährige geradeheraus. Seit seiner Kindheit hat er viel Zeit in dem Bergort verbracht, später betrieb er die Mikwe in der jüdischen Heilstätte »Etania«, in der heute noch jüdische Gästegruppen übernachten. Als das Haus ab dem Jahr 2000 nicht mehr als Hotel betrieben wurde, war es dem sechsfachen Familien- und mehrfachen Großvater ein Anliegen, dass die jüdische Infrastruktur in Davos erhalten bleibt. Mosbacher suchte nach einem geeigneten Ort für eine Synagoge.

In den Sommermonaten werden mehrere Hotels von jüdischen Familien betrieben, die koschere Küche, Gebetsräume und andere Unterkünfte anbieten. Das koschere Angebot geht größtenteils aus privater Initiative hervor. Die Zahl ausländischer Feriengäste hat in den vergangenen Jahren stetig zugenommen, viele kommen aus Großbritannien, Belgien, den USA und Israel.

Manche Feriengäste sind sich unsicher, ob sie auch in Zukunft noch nach Davos kommen.

Die ersten jüdischen Gäste kamen um 1870 nach Davos. Damals wurde der Alpenkurort als Zentrum für die Behandlung von Lungenkranken bekannt. Um die Jahrhundertwende entstanden orthodox geführte Gästehäuser, und 1919 wurde das jüdische Sanatorium Etania eröffnet. Der jüdische Teil des Waldfriedhofs besteht seit fast 100 Jahren. Er wurde 1931 eingeweiht und diente vielen Lungenkranken als letzte Ruhestätte.

In den 30er-Jahren entwickelte sich Davos aber auch zum Zentrum der nationalsozialistischen Bewegung in der Schweiz. Das Höhenklima zog viele Deutsche an, die an Tuberkulose erkrankt waren. Viele blieben in Davos und wurden nach 1933 Mitglieder der NSDAP. Diese Entwicklung wurde stark geprägt von dem deutschen Nationalsozialisten Wilhelm Gustloff. Er war Landesgruppenleiter der NSDAP-Auslandsorganisation (AO) in der Schweiz. Der jüdische Student David Frankfurter erschoss ihn 1936 in seiner Wohnung in Davos.

Trotz der nationalsozialistischen Schatten in der Geschichte des Ortes blieb die Alpenstadt ein Magnet für jüdische Feriengäste – bis heute. Ob auf der Piste oder unten im Dorf, die jüdischen Touristen halten an Davos fest. Auch wenn sich einige von ihnen in letzter Zeit fragen, ob sie in Davos tatsächlich noch willkommen sind.

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