Es ist ein absolutes Novum: Erstmals in der 116-jährigen Geschichte des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG) traten zwei Kandidaten zur Präsidentenwahl an.
Bei der am vergangenen Sonntag in Bern abgehaltenen Delegiertenversammlung setzte sich der Basler Nationalökonom Ralph Lewin mit einer knappen Mehrheit von 45 zu 40 gültigen Stimmen gegen Ralph Friedländer, Präsident der Jüdischen Gemeinde Bern, durch.
VIZE Friedländer wurde anschließend zum SIG-Vizepräsidenten gewählt. Vor der Delegiertenversammlung schätzte Friedländer im Gespräch mit dem Schweizer Magazin »tachles« seine Chancen auf das Präsidentenamt noch als gut ein. Auf Antrag eines Delegierten fand die Präsidentenwahl geheim statt.
Während der um mehrere Stunden verkürzten Versammlung wurde auf Anti-Corona-Vorkehrungen wie etwa das Tragen von Schutzmasken geachtet. Wegen der Verschärfung der Corona-Lage konnten die meisten Delegierten aus der Genfer Gemeinde nicht anreisen. Ihre postalische oder elektronische Beteiligung an der Abstimmung lehnte die SIG-Geschäftsleitung im Vorfeld der Delegiertenversammlung ab. Es ist nicht klar, welchen Einfluss dies auf das Wahlergebnis hatte.
VORGÄNGER Als SIG-Präsident folgt Ralph Lewin auf den Rechtsanwalt Herbert Winter, der nach zwölf Jahren im Amt mit langem Applaus verabschiedet wurde. In seiner neuen Funktion ist Lewin ein Quereinsteiger. In der Israelitischen Gemeinde Basel hat der 67-Jährige keine Ämter bekleidet.
Bekanntheit erlangte Ralph Lewin vor allem als Politiker der Sozialdemokratischen Partei (SP). Von 1997 bis 2008 gehörte er als Vorsteher des Wirtschafts- und Sozialdepartements der Regierung des Kantons Basel-Stadt an. Zuletzt engagierte er sich in Verwaltungsräten und Verbänden. Lewin leitet den Tarifverbund Nordwestschweiz und sitzt im Bankrat der Basler Kantonalbank. Er ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder.
KRISENMANAGER Ein Delegierter bezeichnet den neuen SIG-Präsidenten im Telefongespräch mit der »Jüdischen Allgemeinen« als »geborenen Krisenmanager«. In seinen Regierungsämtern sei er erfolgreich gewesen. Lewin tritt eher zurückhaltend auf. Er gilt als ein ausgleichender Charakter, der sich gut in Sachthemen einarbeiten kann.
Dass Lewin Mitglied im Patronatskomitee der Schweizer Sektion des New Israel Fund – einer unter traditionellen und orthodoxen Juden als sehr links geltenden Organisation – ist, sorgte während der Delegiertenversammlung für Gesprächsstoff, erwies sich aber nicht als wahlentscheidend.
ZWEISTAATENLÖSUNG Ein Delegierter befragte Lewin zu seiner Rolle beim New Israel Fund und seiner Haltung zum jüdischen Staat. Ralph Lewin bekannte sich zu Israel. Im Konflikt mit den Palästinensern sei er für die Zweistaatenlösung. Lewin beteuerte zudem, er habe sich bereits als Student gegen linken Antizionismus eingesetzt.
Seine vierjährige Amtszeit als SIG-Präsident trat Lewin gleich am Sonntag an. Er bedankte sich für das Vertrauen der Delegierten und sagte, er werde ein Präsident für alle sein. Zugleich reichte er dem unterlegenen Kandidaten Ralph Friedländer die Hand zur Zusammenarbeit.
PROGRAMMATIK Zu seiner Programmatik äußerte sich Lewin nur knapp. Er sagte: »Die Außenwahrnehmung der jüdischen Gemeinschaft muss weiter gestärkt werden, das will ich engagiert angehen.« Der SIG werde auch die Bedürfnisse der Gemeinden in den Blick nehmen und berücksichtigen.
Es wird erwartet, dass der neue Präsident erst in einigen Monaten mit einer ausführlichen Programmatik in die Öffentlichkeit tritt. Leicht sind die Zeiten nicht, in denen er sein Amt antritt: Laut Beschluss des Schweizer Bundesrats gilt ab Montag in allen öffentlich zugänglichen Innenräumen, also auch in den Schweizer Synagogen, eine generelle Maskenpflicht.