Am Ende wurde Rabbiner Menno ten Brink symbolisch: »Auf einer engen Brücke aus der Vergangenheit in die Zukunft« – so verortete der Rabbiner der gastgebenden liberal-jüdischen Gemeinde Amsterdam das europäische Reformjudentum. Seine Zuhörer forderte er auf: »Geht weiter, habt keine Angst und seid stolz darauf, was ihr seid: progressive europäische Juden, die der Zukunft entgegengehen!«
Selbstbewusster Optimismus war ein tragender Pfeiler der zweijährlichen Konferenz der European Union for Progressive Judaism (EUPJ), die bis zum Sonntag in Amsterdam stattfand. Anlass dazu gab der Teilnahmerekord: Rund 350 Menschen, darunter mehr als 30 junge Erwachsene, machten sich auf den Weg ins neue Gemeindezentrum am Rand der niederländischen Hauptstadt.
Unter dem Motto »Generations 2012« erwartete die Teilnehmer drei Tage lang ein volles Programm: Vorträge und Workshops, Gottesdienste sowie Touren durch die Stadt und ihre Umgebung. Im Mittelpunkt stand eine detaillierte Bestandsaufnahme des europäischen Reformjudentums. »Vor 21 Jahren gab es vier Mitgliedsländer, heute sind es 18, beim nächsten Kongress werden es 20 oder mehr sein«, sagte EUPJ-Präsident Leslie Bergman voller Freude und folgerte: »Der progressive Zug ist angekommen.«
Zukunft Die Gruppe der jungen Erwachsenen setzte sich in einem Seminar mit der »Zukunft des Judentums« auseinander. Konsens war, dass sich die jungen Reformjuden nicht mit einer »verwässerten Orthodoxie« zufriedengeben wollen. Kontrovers wurde es beim Verhältnis zu etablierten jüdischen Institutionen. Engagiert diskutiert wurde auch über die Offenheit gegenüber nichtjüdischen Partnern und die Frage, ob gemischte Paare Anspruch auf eine Chuppa hätten.
Viel Aufmerksamkeit gab es für einen Workshop zur Situation von Brit Mila und Schechita. Beide stehen in etlichen europäischen Ländern seitens der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft in der Kritik. Ron van der Wieken, Vorsitzender der Amsterdamer Reformgemeinde, betonte, der Einsatz für die Beschneidung vereine orthodoxe und Reformgemeinden. Das koschere Schlachten, im vergangenen Jahr in den Niederlanden kurz vor dem Verbot, steht in liberalen Kreisen weniger weit oben auf der Agenda als in orthodoxen Gemeinden. Dennoch wies van der Wieken darauf hin, beide Themen im gleichen gesellschaftlichen Kontext der Religionsfreiheit zu sehen, die gewahrt bleiben müsse.
Ein erweitertes Konzept dieses Begriffes forderte Judith Frishman, Professorin für Jüdische Studien an der Universität Leiden. In einer Debatte über das Verhältnis zwischen Muslimen und Juden schlug sie vor, die Religionsfreiheit als Teil der Staatsbürgerschaft zu sehen, und warnte vor der gegenwärtigen Praxis, mit der in Europa Bevölkerungsgruppen von Staatsbürgerschaft und gesellschaftlicher Teilnahme ausgegrenzt würden.
Toleranz Überhaupt war Toleranz einer der Schlüsselbegriffe der Konferenz. Gleich zu Beginn hielt der Rektor des Potsdamer Abraham-Geiger-Kollegs, Walter Homolka – er wurde auf der Konferenz ein weiteres Mal zum EUPJ-Vizepräsidenten gewählt –, einen Vortrag zum Thema »Religionsfreiheit und Toleranz in Europa«. Er referierte über die Geschichte jüdischer Emanzipation sowie das Prinzip jüdischer Toleranz gegenüber Nichtjuden. Daran angelehnt, plädierte Homolka für mehr innerjüdische Toleranz. Mit dem gleichen Recht, mit dem orthodoxe Juden von der nichtjüdischen Bevölkerungsmehrheit Anerkennung fordern, verdiene auch die Minderheit liberaler Juden die Toleranz der Orthodoxen.
Ein Workshop widmete sich dem liberalen Judentum in Israel. Rabbiner Gilad Kariv erläuterte, israelische Reformgemeinden seien bislang zu sehr mit dem eigenen Überleben beschäftigt gewesen, sodass sie keine Kontakte nach Europa pflegen konnten. Inzwischen habe man erkannt, dass europäische Partner nicht nur als Spender von Bedeutung sind, und wolle die Kontakte intensivieren.
Zielgruppen Vielfach ging es bei der Konferenz um die Frage, wie die Reformbewegung wachsen könne. Rabbiner ten Brink erinnerte an klassische Zielgruppen wie Vaterjuden und Homosexuelle. Ein Workshop widmete sich speziell dem Thema Konvertiten. Angesichts des jüdischen Anteils von 0,2 Prozent an der Weltbevölkerung plädierten viele dafür, den Übertritt zu erleichtern.
Nicht jeder wollte dabei Adjiedj Bakas folgen, einem bekannten niederländischen Trendbeobachter. Er zeigte in einer Multimediapräsentation, wie er weltweit ein großes Bedürfnis nach Spiritualität beobachte. Dies eröffne dem Judentum Möglichkeiten. Rabbiner sollten von Marketingfachleuten lernen und neue Gemeindemitglieder werben, so Bakas, dessen Vortrag viele Teilnehmer eher unterhielt als inhaltlich überzeugte.
Es dürfte wohl weniger der Trendbeobachter gewesen sein, der Menno ten Brink zu seiner Abschlussbemerkung brachte. In einer kämpferischen Rede hob der Rabbiner hervor, progressive Juden seien »keine Juden zweiter Klasse, sondern erster Klasse«. Und dann gab er den Teilnehmern zwei denkwürdige Sätze mit auf den Weg: »Liberale haben selten den Drang zur Mission. Aber können wir nicht trotzdem etwas mehr Lubawitsch sein?«