In den Pausen lärmten hier immer die Kinder, tobten über den Hof, lachten und schrien durcheinander. Doch seit Monaten herrscht Stille. Die renommierte Warschauer Mittelschule Nr. 42 an der Twarda-Straße musste in einen anderen Stadtteil umziehen. Das Gebäude neben der orthodoxen Synagoge steht leer.
Der Geschäftsmann Maciej Marcinkowski, der Ansprüche auf Eigentumsrückgabe von den eigentlich Berechtigten sowie deren Erben aufkauft und diese dann auf dem Verwaltungsweg selbst geltend macht, war kurz davor, auch dieses Gebäude samt Grundstück zu übernehmen. Doch dann meldete sich überraschend eine jüdische Erbin aus den USA, die er übergangen hatte, und die Stadt Warschau stoppte das Reprivatisierungsverfahren.
Schauprozess Nun soll eine Art »Volkstribunal« den Fall in einem öffentlichen Schauprozess neu aufrollen und so »dem Volk die Gerechtigkeit zurückgeben«, wie Justizminister Zbigniew Ziobro von der nationalpopulistischen Partei »Recht und Gerechtigkeit« (PiS) sagt.
Das neu geschaffene Organ darf Anklage erheben wie ein Staatsanwalt oder eine parlamentarische Untersuchungskommission und dann auch gleich das Urteil fällen sowie eine rechtlich bindende Entscheidung verkünden – wie ein Gericht oder eine staatliche Behörde.
Mit Gewaltenteilung hat dies nichts zu tun. Das ist durchaus so gewollt. Die PiS will »dem Volk« alle Staatsgewalt zurückgeben. »Partei und Volk« wiederum sind als Einheit zu sehen – zumindest nach dem Selbstverständnis der PiS. Seit den Wahlen im Herbst 2015 regiert die nationalpopulistische Partei mit absoluter Mehrheit und zerstört nach und nach die Grundlagen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Polen. Seit Dienstag hat »das Volk« im Rahmen einer öffentlichen »Reprivatisierungs-Verifikation« Gelegenheit, die Schuldigen anzuprangern, Verwaltungsentscheidungen rückgängig zu machen und auch gleich Strafen zu verhängen.
Kronzeugin im Reprivatisierungsfall der Twarda-Schule sollte die Warschauer Stadtpräsidentin Hanna Gronkiewicz-Waltz von der liberalkonservativen Bürgerplattform (PO) sein. Doch diese weigerte sich, vor dem Tribunal auszusagen und verwies auf ihre Klage vor dem Obersten Gericht. Die Kommission sei mit Kompetenzen ausgestattet worden, die bislang nur die Stadtpräsidentin und ihre Behörde hatten. Bevor das Doppel-Kompetenz-Chaos nicht aufgelöst sei, werde sie sich nicht verhören lassen.
Nicht zu vernehmen war bislang auch »das Volk«, die empörten Eltern und Lehrer, die hofften, drei Tage lang vor laufenden Kameras über den Geschäftsmann, die Stadtverwaltung und den erzwungenen Umzug der Schule in einen anderen Stadtteil schimpfen zu dürfen.
Anders als erwartet, hatte Patryk Jaki, stellvertretender Justizminister und zugleich Vorsitzender des Tribunals, weder die bislang übergangene jüdische Erbin aus den USA nach Warschau eingeladen noch hatte er weitere Erben ausfindig gemacht.
Bierut-Dekret Vor dem Krieg gehörten die Häuser an der Twarda-Straße zum größten Teil Warschauer Juden. Später lag die Straße im Ghetto, das die Nazis nach dem Aufstand 1943 dem Erdboden gleichmachten. Nach dem Krieg wurde das fast vollständig zerstörte Stadtzentrum Warschaus durch das sogenannte Bierut-Dekret enteignet. Zudem verstaatlichten die Kommunisten das Eigentum von Großgrundbesitzern, Unternehmern, »Klassenfeinden«, religiösen Gemeinden, sowie – in einem eigenen Dekret – »deutsches und verlassenes Eigentum«. Das »verlassene Eigentum« gehörte Juden.
Die Widerspruchsfrist gegen die Enteignung war mit einem halben Jahr denkbar knapp bemessen. Die meisten der einst über 350.000 Warschauer Juden waren tot, doch auch diejenigen, die die Schoa überlebt hatten, schafften es meist nicht rechtzeitig, nach Warschau zurückzukehren und Widerspruch gegen die Enteignung einzulegen. Im Fall der Twarda-Straße war dies aber gelungen. Doch die Einsprüche wurden abgelehnt, da schon damals an dieser Stelle eine öffentliche Schule entstehen sollte. Nach mehreren Pogromen im Nachkriegs-Polen verließen die meisten Schoa-Überlebenden und jüdischen Rückkehrer panikartig das Land. Heute leben in Polen nur noch rund 20.000 bis 30.000 Juden.
Eine völlig neue Situation entstand nach der politischen Wende 1989. Doch schon 2001 scheiterte das vom Parlament verabschiedete Reprivatisierungsgesetz am Veto von Präsident Aleksander Kwasniewski. Damals war eine Sammelklage polnischer Holocaust-Überlebender vor einem New Yorker Gericht anhängig. Der Streitwert der Klage belief sich auf sieben Milliarden Dollar. Das Verfahren wurde jedoch in Erwartung eines verbesserten Reprivatisierungsgesetzes ausgesetzt. Denn das Veto war nicht ganz unberechtigt, hatten die polnischen Abgeordneten doch eine Staatsbürgerklausel ins Gesetz eingebaut. Sie sollte alle, die zum Stichtag, am 31. Dezember 1999, nicht mehr die polnische Staatsbürgerschaft besaßen, von jeder Eigentumsrückgabe ausschließen.
Hätte Präsident Kwasniewski dieses Gesetz unterschrieben, wäre es als Beispiel diskriminierender Gesetzgebung in die Geschichte eingegangen. Danach aber schaffte es keine Regierung Polens mehr, ein neues Reprivatisierungsgesetz auf den Weg zu bringen. Die Enteigneten sind auf den Gerichtsweg angewiesen. Der aber ist langwierig und teuer. Zudem führt er oft nicht zum Ziel.
Masche So ist seit Jahren zu beobachten, dass Immobilienhaie, windige Anwälte, bestechliche Richter wie auch Staats- und Stadtverwaltungsbeamte Millionen scheffeln. Die Masche ist fast immer die gleiche: Ein Unternehmer, Beamter oder Anwalt kauft den eigentlich Berechtigten ihre Rückgabeansprüche für relativ wenig Geld ab und setzt diese dann für sich selbst durch – mit Millionengewinn. Die Mieter der bisherigen Staatsimmobilie sind meist nicht in der Lage, die nach der Sanierung des Hauses wesentlich höhere Miete zu zahlen, und müssen ausziehen.
Rechtlich wäre gegen dieses Vorgehen nichts einzuwenden, wenn dabei nicht die eigentlich Berechtigten über den Tisch gezogen würden oder aber die notwendigen Papiere, die den angeblichen Tod von Berechtigten »beweisen« sollen, gefälscht wären. Besonders oft betroffen sind Grundstücke, die einst Juden gehörten.
Auch die Familie der Warschauer Stadtpräsidentin Hanna Gronkiewicz-Waltz ist in einen solchen Betrugsfall verwickelt. Möglicherweise wird die Erbengemeinschaft für das »Waltz-Haus« eine Millionen-Entschädigung an den eigentlichen Erben zahlen müssen, einen in Frankreich lebenden polnischen Juden.