Als der heute 17-jährige Moshiko zehn Jahre alt war, versagten seine Nieren. Nach einer erfolglosen Dialyse bekam er eine Spenderniere – von Tani Goodman, einem orthodoxen Juden. Goodman war auf tragische Weise ums Leben gekommen, und seine Familie gab die Organe auf seinen Wunsch frei.
Einige Jahre später erhielt Moshiko eine weitere Niere, diesmal von einem Lebendspender, Eric Swimm. Beide Transplantationen wurden von der Halachic Organ Donor Society (deutsch: Halachische Organspender-Vereinigung), kurz HODS, vermittelt. Sie möchte Juden als Organspender gewinnen: durch Aufklärung, Werbung und die Ausstellung eines besonderen Organspenderausweises, der – anders als ein entsprechender Vermerk im amerikanischen Führerschein – die individuelle Glaubensüberzeugung des potenziellen Spenders berücksichtigt.
Außerdem stellt HODS Rabbiner zur Verfügung, die Spendenwillige beraten und Transplantationen beaufsichtigen. Seit ihrer Gründung im Jahr 2002 hat HODS mehr als 600 Vorträge organisiert, mehrere Tausend Organspenderausweise ausgestellt und das Leben von über 300 Menschen – Juden wie Nichtjuden – gerettet.
Wut Für Robby Berman, den Gründer und Präsidenten von HODS, ist Organspende ein besonderes Anliegen. Vor 13 Jahren erfuhr der Harvard-Absolvent und ehemalige Journalist, dass Israel aus dem europäischen Organverteilungsprogramm hinausgeworfen wurde. Der Grund machte ihn wütend. »Man sah die Israelis als Parasiten, weil sie nur Organe empfingen, aber keine spenden wollten«, sagt Berman. Tatsächlich seien damals nur drei Prozent der Israelis bereit gewesen, ihre Organe im Todesfall zu spenden, während es in den USA 40 und in Spanien sogar 80 Prozent gewesen seien.
Berman begann, nach den Ursachen dafür zu forschen. »Jeder – sogar säkulare Juden! – erklärte mir, dass Organspende ›im Judentum verboten‹ sei«, sagt Berman. »Ich habe dann immer argumentiert: Du isst Cheeseburger und fährst am Schabbat Auto, aber du sorgst dich um deinen Körper, wenn du tot bist?«
Mit Logik, das merkte Berman schnell, war hier nichts zu machen. »Beim Thema Tod werden die Menschen konservativ. Dass die Halacha die Organspende unter bestimmten Voraussetzungen eindeutig erlaubt, wird komplett ignoriert«, sagt er und fügt schmunzelnd hinzu: »Ein Rabbiner mit Bart hat aber mehr Einfluss als jedes geschriebene Wort.«
So machte es sich Berman zur Aufgabe, die Menschen aufzuklären und Schritt für Schritt die gesellschaftliche Haltung gegenüber der Organspende zu ändern. Mit dem Geld aus dem Verkauf eines von ihm entwickelten Geografiespiels an den Langenscheidt-Verlag rief er im Jahr 2002 HODS ins Leben und begann seine Mission – zunächst mit Schwierigkeiten. »Es war vor allem nicht leicht, die konservativeren Kräfte ins Boot zu holen«, erinnert sich Berman. Heute sind unter den Unterstützern neben zahlreichen Ärzten und Wissenschaftlern etwa 250 orthodoxe Rabbiner, darunter auch einige »Black Hats« (schwarze Hüte), wie die ultraorthodoxen Rabbiner wegen ihrer traditionellen Kleidung in den USA genannt werden.
Heiligkeit Die Orthodoxie ist in der Frage der Organspende gespalten. Weitgehende Einigkeit besteht zwar darin, dass sie – nach dem Grundsatz der Heiligkeit des Lebens – prinzipiell zulässig ist, wenn dadurch das Leben eines anderen Menschen gerettet werden kann. Aber lebenswichtige oder lebenserhaltende Organe dürfen der Halacha zufolge nur »nach dem Tod« entnommen werden, da sonst eine – verbotene – Tötung (des Spenders) vorliegt. Damit ist die Definition von »Tod« beziehungsweise die Bestimmung des Todeszeitpunkts von entscheidender Bedeutung.
1968 revolutionierte eine Gruppe von Medizinprofessoren der Harvard University mit der Anerkennung des sogenannten Hirntods die bis zu diesem Zeitpunkt herrschende Vorstellung, dass ein Mensch erst dann tot ist, wenn sein Herz und seine Atmung irreversibel zum Stillstand gekommen sind. Viele orthodoxe Juden halten jedoch bis heute an der traditionellen Vorstellung fest.
Kenneth Prager, Professor an der Medizinischen Fakultät der Columbia University und Leiter der Abteilung für Klinische Ethik am Presbyterian Hospital in New York, ist ein starker Verfechter der Organspende. »Menschen sterben, und ihre Organe, die das Leben anderer retten könnten, gehen verloren – das ist eine Tragödie«, sagt er.
Prager, der sich selbst als »gläubigen, modern-orthodoxen Juden« bezeichnet, weiß, dass das Thema sehr emotionsgeladen ist. Aber: »Die Organspende ist kein Widerspruch zum Judentum«, sagt er. Doch räumt er ein, dass die Bestimmung des Hirntods als Todeszeitpunkt im Grunde willkürlich ist. Und dass die neueste Theorie des Todeszeitpunkts – nämlich der Eintritt in ein sogenanntes Wachkoma, das durch schwerste Schädigung des Gehirns hervorgerufen wird – durchaus mit Vorsicht zu betrachten ist.
Beim Wachkoma kommt es zu einem Ausfall der gesamten Großhirnfunktion oder größerer Teile davon, während Funktionen von Zwischenhirn, Hirnstamm und Rückenmark erhalten bleiben. Das heißt, die Betroffenen wirken wach, sind aber aller Wahrscheinlichkeit nach nicht bei Bewusstsein und können nur sehr begrenzt mit ihrer Umwelt kommunizieren.
»Die fortschreitende Technologie stellt uns vor existenzielle moralische Fragen«, sagt Prager. Es sei eine Gratwanderung, den Todeszeitpunkt zu definieren. »Wir müssen dafür sorgen, dass er nicht verantwortungslos ausgeweitet wird.« Aber auch wenn man allein den Herzstillstand als Todeszeitpunkt anerkenne, entstünden Fragen. »Zum Beispiel: Wie lange müssen wir versuchen, wiederzubeleben?« Der Tod dürfe nur von einem erfahrenen Arzt festgestellt werden, der sich absolut sicher ist, betont Prager.
Moral Was ihn am meisten stört, ist die Tatsache, dass streng orthodoxe Juden, die eine Organspende strikt ablehnen, sehr wohl bereit sind, ein Spenderorgan zu empfangen. »Das halte ich für moralisch falsch«, sagt der Mediziner sehr bestimmt.
Die Tatsache, dass viele orthodoxe Juden trotz des eindeutigen Wortlauts der Halacha gegen eine Organspende sind, beruht nach Auffassung von Rabbiner Norman Schloss, Maschgiach in Atlanta, vor allem auf Unkenntnis. »Ich selbst war nie richtig informiert«, sagt Schloss, der HODS vor einigen Jahren nach einer Krebserkrankung und einer Lungenoperation beitrat. »Horrorgeschichten über Dinge, die in Krankenhäusern passieren, haben mich abgeschreckt. Organspende war schlichtweg verpönt.«
Russ Shulkes, Rabbiner an der Emory University in Atlanta, bestätigt: »Das Thema der Organspende ist ein großes Tabu. Deshalb denken alle, es sei nicht erlaubt.« Nicht zu unterschätzen sei auch der Einfluss von religiösen Institutionen oder Personen, die als Autoritäten anerkannt seien, gibt Rabbiner Schloss zu bedenken.
In dem Gebot, einen Toten »vollständig« zu begraben, das immer wieder als Argument gegen Organspende angeführt wird, sieht Shulkes nur ein nebensächliches Problem. »Diese Mizwa rührt von der Vorstellung her, dass wir nach dem Ebenbild Gottes geschaffen wurden. Deshalb ist es verboten, den Körper – auch den toten! – zu entweihen«, erklärt der Rabbiner.
Als Entweihung wird es unter anderem gesehen, aus einem Leichnam Nutzen zu ziehen, beispielsweise das Haar zu rasieren und als Perücke zu verkaufen, sagt Shulkes. Dieses Verbot gelte aber nur, solange es keinen höheren Zweck gebe: »Wenn ein Mensch zu verhungern droht und es keine andere Chance auf Nahrung gibt, ist es ihm durchaus erlaubt, den Körper eines Toten zu essen«, gibt Shulkes ein etwas makabres, aber deutliches Beispiel.
Pikuach Nefesch, der Erhalt des Lebens, sei das oberste Prinzip im Judentum, betont der Rabbiner. Es sei jedoch nicht erlaubt, jemanden zu töten (und anschließend zu verspeisen), um sein eigenes Leben zu retten, sagt Shulkes mit Verweis auf die beiden Mütter im biblischen Buch der Könige. Die Frauen fassten in einer Hungersnot den Plan, ihre – noch lebenden! – Säuglinge zu essen. »Du sollst durch die Gebote leben, nicht durch sie sterben«, zitiert Shulkes das dritte Buch Mose.
Shaul Friberg, Campus-Rabbiner an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg und ebenfalls Besitzer des HODS-Spenderausweises, bestätigt diesen Gedanken. »Organspende ist im Grunde eine natürliche Sache. Der Körper ist ein Geschenk Gottes, und unser Ziel in diesem Leben ist es, eine bessere Welt zu schaffen – auch nach dem Tod«, sagt der Rabbiner.
Hürden Doch selbst wenn man der Überzeugung ist, dass das Judentum Organspende erlaubt, gibt es bei vielen immer noch Hürden, tatsächlich den Spenderausweis zu beantragen, »zum Beispiel, den inneren Schweinehund zu besiegen«, sagt Rabbi Shulkes und lacht. Er selbst brauchte drei Jahre, bis er tatsächlich HODS-Mitglied wurde.
Aber nicht nur Faulheit stehe einem Bekenntnis als Organspender entgegen, sondern auch die Angst vor Stigmatisierung. »Mit dem Ausweis setzt man ein sichtbares Zeichen«, sagt Shulkes. Die Entscheidung ist auch eine politische: Viele streng orthodoxe Gemeinden oder Organisationen stellten keinen Rabbiner mit Organspendeausweis ein, sagt Shulkes. »Deswegen lehnen viele die Organspende offiziell ab, auch wenn sie eigentlich dafür sind.«
Dank der Aktivitäten von Organisationen wie HODS und Renewal, einer gemeinnützigen Vereinigung, die Spender und Empfänger zusammenbringt, ändert sich jedoch die Haltung der jüdischen Gemeinschaft gegenüber der Organspende, wenn auch langsam. Einer in der amerikanischen Zeitschrift »Forward« publizierten Untersuchung zufolge sind sogar 17 Prozent der Nierenspender in den USA Angehörige ultraorthodoxer Gemeinschaften.
Auch Berman ist seinem Ziel nähergekommen. Seit der Gründung von HODS und dank der Aufklärungsarbeit sei die Spenderrate in Israel auf 15 Prozent angestiegen und die Zahl der jährlichen Todesfälle wegen fehlender Organspender von 130 auf 80 gesunken, sagt er.
Allerdings haben nicht alle Verständnis für Bermans Engagement. Er hat bereits mehrere Todesdrohungen erhalten, und Hacker haben die Website der Organisation attackiert. »Mit Zweiflern kann ich umgehen, aber die wirklichen Gegner weigern sich, überhaupt mit mir zu reden, geschweige denn zu argumentieren.«
Trotz der wachsenden spirituellen Unterstützung ist Berman auf finanzielle Mithilfe angewiesen. Im HODS-Büro arbeiten nur drei Festangestellte, der Rest sind ehrenamtliche Mitarbeiter. Auch die Miete für die Büroräume im New Yorker Stadtteil Harlem wird durch eine Spende bestritten. Halb im Ernst, halb scherzhaft bemerkt HODS-Vorstandsmitglied Kenneth Prager: »Wir brauchen dringend einen Millionär – vielleicht ist ja einer unter den Lesern dieses Artikels?«
www.hods.org
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Zahlen und Fakten
Laut einer Statistik des Internationalen Registers für Organspende und -transplantation (IRODaT) von 2013 haben die USA im internationalen Vergleich die vierthöchste Organspenderrate mit 26 Spendern pro eine Million Einwohner (pME), während Israel mit rund sieben Spendern pmE im letzten Drittel rangiert. Spitzenreiter ist Kroatien mit rund 37 Spendern pME, gefolgt von Spanien und Belgien. Deutschland liegt mit rund 13 Spendern pME im unteren Mittelfeld.
Mehr als 118.000 Amerikaner warten auf ein Spenderorgan, dennoch haben im Jahr 2012 nur knapp über 8000 eines erhalten. Trotzdem führen die USA die globale Rankingliste der tatsächlichen Transplantationen an. In der Europäischen Union stehen mehr als 63.000 Menschen auf der Warteliste für ein Spenderorgan, mit Island, Norwegen und der Türkei sind es sogar 86.000.
Nach einer Schätzung des Global Observatory on Donation & Transplantation (GODT) wurden im Jahr 2012 weltweit knapp 115.000 Organe transplantiert, mehr als ein Viertel davon in der EU.