Vergangene Woche an der Pariser Porte de Vincennes: Kartons mit Fruchtsäften, Milch, ungesäuertem Brot, Sonnenblumenöl. Der halbe Gehsteig steht voller Paletten mit koscheren Lebensmitteln. Und schon wieder kommt ein Laster mit einer Lieferung. Drei Männer manövrieren eine Palette voller Eier in den Supermarkt Hyper Cacher. Zwei Polizisten mit Maschinengewehren an der Eingangstür schauen ihnen zu und versuchen, nicht im Weg zu stehen.
Drinnen herrscht Gedränge. Mitarbeiter räumen die Lebensmittel in die neuen Regale. Platt getretene Kartons und Schutzfolie liegen auf den Böden. Dazwischen schieben Kunden ihre Einkaufswagen durch die engen Gänge. »Die Stammkundschaft kehrt wieder, die Leute kaufen für Pessach ein«, sagt der Filialleiter des Hyper Cacher, den hier alle nur Pedro nennen. Seit der Wiedereröffnung am 15. März ist der Supermarkt gut besucht. »Das ist ein gutes Zeichen. Wir kehren langsam zur Normalität zurück«, sagt Pedro.
Geiselnahme Jeder hier wünscht sich Normalität. Doch jeder weiß, dass diesem Supermarkt die Normalität genommen wurde. Am 9. Januar hatte der islamistische Terrorist Amedy Coulibaly im Hyper Cacher an der Porte de Vincennes vier Juden erschossen: Yohan Cohen (20), der dort arbeitete, Yoav Hattab (21), François-Michel Saada (63) und Philippe Braham (45). Der Terrorist nahm Geiseln, bis eine Spezialeinheit den Supermarkt stürmte. Einige Kunden konnten sich in einem Kühlraum verstecken, darunter eine Mutter mit ihrem Baby. Die Welt sah zu und war geschockt.
Mehr als zwei Monate danach piepen an diesem Ort wieder die Scanner der Kassen, fragen Kunden, wo der Kaffee steht, öffnet sich die neue Schiebeglastür – die alte war von Maschinenpistolenkugeln durchsiebt. Ein Werkzeugkasten steht auf dem Boden, daneben eine Bohrmaschine. Handwerker ziehen Kabel an der Decke entlang: Sie arbeiten noch an der Alarmanlage und der Videoüberwachung.
»Wir versuchen, hier einigermaßen normal zu arbeiten«, sagt Mitarbeiterin Nathalie Touitou und räumt dabei Honiggläser ins Regal. Die 47-Jährige gehört zum neuen elfköpfigen Mitarbeiterteam. Die früheren Angestellten seien noch krankgeschrieben, seien traumatisiert. »Viele haben Schwierigkeiten, wieder in ihr Leben zurückzufinden.« Manche von ihnen können keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr benutzen, weil sie auf Unbekannte panisch reagieren und Angst haben, dass plötzlich jemand erneut losschießen könnte.
solidarität Touitou war sich zuerst nicht sicher, ob sie die Stelle annehmen will. Bereits früher hatte sie drei Jahre lang in diesem Hyper Cacher gearbeitet, dann eine Pause gemacht. Jetzt nahm sie den Job wieder an. Touitou sagt Sätze, die in diesen Tagen viele hier sagen: Wir müssen zusammenstehen. Wir lassen uns nicht einschüchtern. Wir müssen unsere Traditionen bewahren. Die Terroristen haben nicht gewonnen. Touitou selbst kannte eines der Opfer, den jungen Kassierer Yohan Cohen. »Vielen Kunden fällt es schwer, hierherzukommen«, sagt sie, »manche haben Tränen in den Augen.« Auch Muslime und Christen – teils aus anderen Gegenden von Paris – machten in den vergangenen Tagen aus Solidarität hier Einkäufe.
Nathalie Touitou sagt, dass seit den Anschlägen viele jüdische Familien hier im Pariser Osten darüber nachdenken, nach Israel auszuwandern. Doch sie will bleiben, obwohl sie Angehörige in Israel hat, die sie gerne aufnehmen würden. »Ich bin hier aufgewachsen, bin Französin, habe meine Brüder und Schwestern hier. Ich mache in Israel gern Urlaub, aber leben will ich in Paris.«
Für die vielen Juden in den östlichen Vororten Vincennes und Saint-Mandé ist der koschere Supermarkt sehr wichtig. Die Wiedereröffnung der Filiale habe niemals infrage gestanden, sagt Laurent Mimoun, einer der Chefs der Hyper-Cacher-Kette, die in Paris elf Geschäfte hat. In einer Pressemitteilung schrieb das Unternehmen, dass man an alle Opfer und deren Angehörige denke. Mit dieser Wiedereröffnung wolle man ein Zeichen setzen, dass das Leben immer stärker sei als die Barbarei.
Auch die Regierung will diese Botschaft vermitteln. Der erste Kunde bei der Wiedereröffnung war Innenminister Bernard Cazeneuve. Er kaufte zwei Flaschen koscheren Wein, lobte den Mut der Geschäftsführung, den Laden wiederzueröffnen, und das damit verbundene Signal, dass man entschlossen sei, weiterhin in Freiheit in diesem Land zu leben.
Renovierung Das Geschäft, stark zerstört durch die Geiselnahme und die Erstürmung durch ein Spezialkommando, wurde komplett renoviert. Neue Regale, anders aufgestellt. Ein neuer schwarzer Fliesenboden. Die Kassen sind an der alten Stelle, aber ebenfalls anders ausgerichtet. Nachbarn boten bei den Arbeiten Hilfe an, die Handwerker arbeiteten mehr und schneller, als sie eigentlich mussten. Die Außenfassade erhielt einen neuen, helleren Anstrich und ein neues rot-blaues Hyper-Cacher-Schild. Der Ort, an dem Grausames passierte, sollte komplett anders aussehen.
Dennoch ist für viele der Gang in diesen Supermarkt kein leichter. »Mir war sehr mulmig, als ich das erste Mal wieder hier einkaufte. Und gleichzeitig war ich traurig, weil hier diese Morde passierten«, sagt Sandrine Dayan. Die Mutter dreier Kinder hat für das Mittagessen einkauft und schiebt den Kinderwagen mit ihrem fünfmonatigen Sohn Aaron. »Aber es ist wichtig, hierher zurückzukommen und den Supermarkt zu unterstützen – wie alle auch Charlie Hebdo unterstützt haben.«
Dayan wohnt mit ihrer Familie nicht weit entfernt vom Hyper Cacher, im benachbarten Saint-Mandé, wo mehr als 40 Prozent der Bevölkerung jüdisch sind. Sie und ihre Familie erinnern sich nur zu gut an die beiden Anschläge vom Januar. Denn Dayans Mutter wohnt gegenüber der Redaktion der Satirezeitung Charlie Hebdo, sie hörte die Schüsse und Schreie auf der Straße. Sandrine Dayan selbst war nur anderthalb Stunden vor der Geiselnahme mit ihrem kleinen Sohn im Hyper Cacher. »Das Schicksal meinte es gut mit uns«, sagt sie. Ihre Mutter möchte nicht, dass sie hier einkauft – schon gar nicht mit dem Kind. Aber sie macht es trotzdem, aus Solidarität. »Jeder hier weiß, dass etwas Ähnliches überall wieder passieren kann – wir sind nirgendwo völlig sicher.«
Kaffee Draußen ist Wachablösung bei den Polizisten. Seit den Anschlägen erleben die Sicherheitskräfte viele freundliche Gesten, auch hier an der Porte de Vincennes. »Die Leute kommen auf uns zu, sagen mir, dass meine Arbeit wichtig ist – da wird mir warm ums Herz«, sagt einer der beiden Polizisten. Immer wieder fragen Kunden, ob sie Hunger hätten oder einen Kaffee möchten. Angst, gerade hier Patrouille schieben zu müssen, habe er nicht. Er sei aber sehr wachsam, einmal habe es hier schon eine Verhaftung gegeben, weil jemand eine israelische Fahne verbrannt hat.
Normalität sieht anders aus. Auch die Absperrgitter sorgen weiterhin für einen Sicherheitsabstand vor dem Markt. Vor ihnen liegen immer noch die vielen Blumen von damals. Sie sind längst braun und verwelkt, aber sie erinnern weiter an den 9. Januar.