Großbritannien

Auf der Couch bei Ms. Freud

Manchmal braucht der Geist eine Pause. Um diese genüsslich zu zelebrieren, lohnt es sich, den herrlich verrückten und zugleich beruhigenden Gesprächen von Bella Freud mit ihren illustren Gästen im Podcast »Fashion Neurosis« zu lauschen. Die manchmal mehr als eine Stunde langen Interviews – in voller Länge auf YouTube zugänglich – sind perfekt arrangiert. Die britische Modedesignerin und erstmals auch Moderatorin Bella Freud lädt darin ihre Gäste ein, sich auf die Couch zu legen und über alle Aspekte ihrer Beziehung zur Mode zu sprechen.

In jeder Episode beginnt Freud das Gespräch mit der Frage: »Was trägst du heute? Warum hast du dich dafür entschieden?«. Dabei scheint sofort klar, dass es nicht à la The Devil Wears Prada um den Sinn von Mode geht, sondern vielmehr über jede Facette der individuellen Beziehung zur Mode als einen Zugang zum Inneren einer Person, die bei Bella Freud – immerhin die Tochter des Porträtmalers Lucian Freud und Urenkelin von Sigmund Freud – auf der Couch liegt.

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Heraus kommen dabei unterhaltsame, persönliche Geschichten, die das Leben erzählen. Freuds sehr sanfte, bestätigende Art ist weicher als die Merinowolle ihrer Knitwear, und ihr Konzept erweist sich als überraschend erfrischend, wenn Prominente wie Nick Cave, Kate Moss, Cate Blanchett, Zadie Smith oder der norwegische Autor Karl Ove Knausgård Einblicke in Familiengeschichte, persönliche Anekdoten und hochwertigen Klatsch liefern.

Prominente wie Nick Cave, Kate Moss und Cate Blanchett legen sich hin und reden.

Während die Autorin Zadie Smith über den Verlust ihrer gesamten Garderobe bei einem Brand spricht und darüber, welche Rolle Kleidung seit jeher in ihrem Leben spielt, erzählt Friends-Schauspielerin Courteney Cox, warum sie sich so resolut von ihren 90er-Jahre-Outfits getrennt habe. Ob lapidar oder philosophisch wie bei dem Musiker Nick Cave, der von sich selbst sagt, dass er ohne Anzug und Krawatte nicht richtig denken könne, die Interviewten machen ihre Gedanken erstaunlich nackt – die Wirkung der Couch hat Freuds Urgroßvater schließlich entdeckt. Während Freuds Gäste erzählen, werden sie von oben gefilmt, und jeder, egal wie extravagant, wirkt plötzlich nahbar und geradezu unschuldig.

Teil einer ästhetischen Inszenierung

Dass das Ganze Teil einer ästhetischen Inszenierung ist, tut dabei nichts zur Sache. Man spürt beim Zuhören förmlich das Faszinierende des Formats, wenn eine exzentrische Persönlichkeit wie die britische DJane und Musikautorin Princess Julia berichtet, warum es für sie ein Wendepunkt war, als sie verstand, dass Kleidung eine echte Bereicherung sein kann. Gutes Outfit strahle Macht aus, die man vorher nicht wirklich gespürt habe, sagt sie, auf den beigen Kissen liegend. »Mit 16 oder 17 habe ich auf der Straße gestanden und versucht, ein Taxi zu bekommen. Ich trug ein Bondage-Outfit, weil ich in Vivian Westwoods Shop gearbeitet hatte. Und dann, oh mein Gott, fing diese Frau einfach an zu schreien. Dabei hatte ich doch überhaupt nichts getan.«

Etwas später im Interview erzählt die heute 65-Jährige, die mit bürgerlichem Namen Julia Fodor heißt: »Und ich weiß noch, wie ich zum Kleiderschrank meiner Oma ging, die Opernsängerin war, und all ihre Kleider im neuen Dior-Look durchstöberte, sie alle herausholte und ausprobierte. Auch ihre Hüte.«

Von der Jugend als Punk zum Kindesalter und wieder ins Jetzt auf Bella Freuds Sofa. So springen die Gäste von Geschichte zu Geschichte. Auch der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård, der beim Erzählen eine gewisse Melancholie ausstrahlt, offenbart einen bemerkenswerten Moment von Bewusstwerdung, als er sich an folgende Episode mit seinem Vater erinnert: So habe er in seinen frühen Teenagerjahren schwarze Jeans, ein schwarzes T-Shirt, schwarze Schuhe und im Winter dazu einen schwarzen Pullover getragen. Und er habe seinen Vater geärgert, indem er sich den Kopf rasierte und in jedem Ohrläppchen einen kreuzförmigen Ohrring trug. »Als mein Vater den neuen Look sah, sagte er bloß: ›Nun, du siehst aus wie ein Idiot.‹ Und das war irgendwie das, was ich erreichen wollte, denke ich«, so Knausgård.

Die Zuhörer lernen in Bella Freuds Sessions: Mode ist nicht nur ein äußeres Erscheinungsbild, sondern eine Sprache, die Geschichten erzählt – über die Person, die sie trägt, über Erinnerungen, Stimmungen und gesellschaftliche Entwicklungen. Mit ihren Fragen erforscht Bella Freud die unbewussten Mechanismen hinter Mode: Warum wir uns für bestimmte Outfits entscheiden und was diese über uns aussagen. Damit schafft sie eine entspannte, intime Atmosphäre.

Spielerische Hommage an das Familienerbe

»Fashion Neurosis« ist auch eine spielerische Hommage an ihr Familienerbe, aber auch eine Möglichkeit, Mode, Identität und Psychologie tiefergehend zu erforschen. Bella Freud legt ihre Interviewpartner im wahrsten Sinne des Wortes auf die Couch – eine offensichtliche Anspielung auf das berühmteste Symbol ihres Urgroßvaters Sigmund Freud. Der Begründer der Psychoanalyse befand, dies sei der beste Weg, seine Patientinnen und Patienten frei über ihre Gedanken und Gefühle sprechen zu lassen, um sie »frei assoziieren« zu lassen.

Während Sigmund Freud sich jedoch mit dem Unsichtbaren, dem Unterbewussten, beschäftigte, bringt Bella Freud das Innere nach außen, indem sie Mode als Mittel des Selbstausdrucks nutzt. Trotzdem interessiert sich die gebürtige Londonerin, die vor allem für ihre hochpreisigen Strickwaren und T-Shirts mit Aufschriften bekannt ist, für die unbewussten Entscheidungen, die Menschen bei der Kleiderwahl treffen, und wie diese mit ihrer Persönlichkeit und Vergangenheit zusammenhängen.

Die Gespräche haben zum Teil etwas Mäanderndes, langweilig sind sie aber nie. Und Bella Freud, die ihren Gästen auf einem großen Ledersessel gegenübersitzt, spielt sich nie als Psychotherapeutin auf. Vereinzelt verteilt sie Komplimente, die sogar glaubwürdig klingen, und kommt hin und wieder auf ihr eigenes Leben zurück. Dann dreht es sich weniger um ihren prominenten Urgroßvater. Vielmehr rückt ihr ebenfalls berühmter Vater Lucian Freud in den Mittelpunkt, der Savile-Row-Anzüge liebte, aber manchmal eben wie ein Tramp aussah.

Aus seiner Feder stammt auch das Firmenlogo seiner Tochter – ein Windhund im Profil. Manchmal taucht der Gedanke an den Vater – wenn auch sehr diskret – auf, beispielsweise wenn Bella Freud ihre Gesprächspartner fragt, womit sie beginnen würden, wenn sie sich anziehen – analog zu der Arbeit ihres Vaters, der jeweils ein Gemälde mit dem Punkt zwischen den Augen begann.

Ihr Urgroßvater hätte sie wohl schon längst auf die Couch zitiert.

Der englische Maler war bekannt für seine intensiven, oft schonungslos realistischen Porträts. Die Arbeiten zeugen von einer tiefen Auseinandersetzung mit dem menschlichen Körper und der Psyche, was möglicherweise auch Bellas Interesse an Identität und Ausdruck geprägt hat. Lucian Freud war einer der bedeutendsten Porträtmaler des 20. Jahrhunderts von legendärem Ruf.

Sein Lebensstil war exzentrisch, besessen war er aber vor allem von der Kunst. Und die Parallelen zum Großvater? Um mit den Worten Carol Seigels, der früheren Direktorin des Freud-Museums London, zu sprechen: »Während Lucian der Psychoanalyse feindlich gegenüberstand und die Werke seines Großvaters ablehnte, versuchen seine Gemälde, zum Wesen einer Person vorzudringen, was dem psychoanalytischen Prozess nicht unähnlich ist.«

Porträts seiner Töchter Esther und Bella Freud

Lucian Freud malte – hier schließt sich vielleicht ein anderer Kreis – und porträtierte auch das Model Kate Moss und immer wieder auch die eigene Familie. Ein Gemälde seiner Mutter Lucie, eine geborene Brasch, die einer Berliner Kaufmannsfamilie entstammte, hängt über der Couch des berühmten Psychoanalytiker-Großvaters im Belsize-Park-Arbeitszimmer. Und es gibt zahlreiche Porträts seiner Töchter Esther und Bella Freud oder von Susie und Ali Boyt.

Lucian Freud war einer der drei Söhne des österreichischen Architekten Ernst L. Freud. Stephen Gabriel Freud und der Schriftsteller und Politiker Clement Raphael Freud waren seine Brüder. Die Familie wohnte im Berliner Bezirk Tiergarten am Matthäikirchplatz. Die Familie emigrierte 1933 wegen des virulenten Antisemitismus nach England, wo Freud 1939 die britische Staatsbürgerschaft annahm.

Bellas Vorfahren mütterlicherseits waren irische Katholiken, ihre Mutter bezeichnete sich aber als nicht religiös, während die Verwandten ihres Vaters sich als jüdische Atheisten betrachteten. Bella Freud spricht von sich selbst als Jüdin, positionierte sich in der Vergangenheit aber auch gegen den jüdischen Staat.

Sie war 2014 Mitunterzeichnerin des offenen Briefs einer Anti-Israel-Kampagne, worin gefordert wurde, »dass Großbritannien keine militärische Ausrüstung kauft oder liefert, die im Rahmen der illegalen Besetzung Israels oder als Teil seiner kollektiven Bestrafung des palästinensischen Volkes verwendet oder getestet wurde oder werden könnte«. Zahlreiche Größen aus Politik, Kunst, Literatur und Musik unterstützten die Kampagne damals. Offenbar macht Bella Freud auch kein Geheimnis daraus, eine Befürworterin des BDS (Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen) zu sein oder gewesen zu sein.

Ihr Urgroßvater hätte sie wahrscheinlich längst auf die Couch zitiert. Denn offensichtlich identifiziert sie sich mit ihrem jüdischen Erbe, um sich gleichzeitig auch davon zu distanzieren. Sigmund Freud hätte vielleicht an genau dieser Stelle gemahnt: »Wenn man über einen Witz recht herzlich lacht, ist man nicht gerade in der geeignetsten Disposition, um seiner Technik nachzuforschen.«

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