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Paris

Auf dem Laufsteg

Die Clocharde Babette sitzt wie so oft auf einer Bank gegenüber der Hausnummer 5 in der Rue de la Perle. In dem von einer hohen Mauer mit zwei Toren umgebenen Gebäude wohnt John Galliano, bis vor Kurzem Chefdesigner des weltberühmten Mo- dehauses Christian Dior.

Antisemitische und rassistische Hasstiraden haben dazu geführt, dass er am 1. März seinen Posten dort räumen musste. Die alte Dame auf der Straße kennt Galliano gut. Sie behauptet, ihn jeden Tag gesehen zu haben, bevor es zu dem folgenschweren Streit in der Bar an der Ecke schräg gegenüber kam. Frühmorgens beim Joggen und spätabends, wenn er allein oder von Freunden begleitet nach Hause kam.

»Er schlief nicht viel und zog nachts gern um die Häuser. In der Bar La Perle war er Stammgast.« An den besagten Abend kann sich die alte Frau noch gut erinnern: »Er kam sehr spät heim, und man sah, dass es ihm nicht gut ging. Gleich darauf ist er in die USA geflogen, um sich dort in einer Entzugsklinik behandeln zu lassen. Ich hoffe, dass er bald gesund zurücckommt. Er ist ein so lieber Mensch, er hat das alles nicht verdient«, seufzt sie.

Loyalität Viele von Gallianos unmittelbaren Nachbarn teilen Babettes Meinung. In diesem noblen Teil des Viertels kennt man sich, und es scheint eine Art kompromisslose Loyalität unter den Anwohnern zu geben. Man nimmt sich gegenseitig in Schutz vor Angriffen von außen. So wird auch John Galliano verteidigt. Es heißt, dass der Designer einerseits ein sehr toleranter und weltoffener Mensch, andererseits aber auch ein psychisch labiler Alkoholiker sei, dem man verbale Ausrutscher nachsehen müsse.

An jenem Abend des 24. Februar sei er in einer Bar von fremden Leuten, die ihn nicht einmal erkannten, verspottet worden. Davon gekränkt, hätte er mit seinen Äußerungen nur provozieren wollen, ohne das von ihm Gesagte wirklich so zu meinen. Es fielen Sätze wie »Dreckiger Asiatenbastard, ich bringe dich um«, »Ich liebe Hitler« oder »Dreckiges Judengesicht, du solltest tot sein«. Die Tatsache, dass sich die Gäste über seinen offensichtlich desolaten Zustand nicht nur lustig gemacht, sondern ihn auch noch mit dem Handy gefilmt haben, findet man hier schlichtweg skandalös.

Zu ihnen gehört auch eine ältere spanischstämmige Dame und langjährige Bekannte des Stars, die nur Carmen genannt werden möchte. Als ehemaliges Modell kennt sie die Modebranche nur allzu gut. »Das ist ein Milieu, das einen derart sensiblen, perfektionistischen und von Komplexen gequälten Mann wie Johnny auf Dauer einfach kaputtmachen musste. Ich finde es sehr ehrenwert, wenn sich ein solches Genie eingesteht, auf Hilfe angewiesen zu sein. Andere machen so lange weiter, bis sie sich selbst komplett zerstören.«

Wie sehr der Hang zur Selbstzerstörung in Gallianos Umfeld verbreitet war, zeigen die Todesfälle dreier seiner Freunde. Vor vier Jahren wurde sein engster Mitarbeiter und Vertrauter Steven Robinson nach der Einnahme von Medikamenten tot aufgefunden. Einen Monat später begeht Isabella Blow, eine befreundete Stylistin, Selbstmord und 2010 schließlich Designerkol- lege Alexander McQueen, der mit ihm die Saint Martin’s School absolviert hatte.

»Seit er Steven verloren hat, leidet John an einer schweren Neurose«, erklärt Carmen. »Die Tatsache, dass er sich für seine Worte entschuldigt und um ärztliche Hilfe gebeten hat, zeigt, dass ihm die Angelegenheit bewusst macht, dass er ein Problem hat und so nicht weitermachen kann. Letztlich hat das Ganze also auch etwas Gutes.«

Rechtsstreit Galliano hat nach dem Vorfall beteuert, kein Antisemit zu sein und darauf verwiesen, dass er Juden sehr viel zu verdanken habe. Damit meinte er vor allem Dior-Chef Sidney Toledano, dessen Vater der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde von Casablanca war. Carmen erklärt, dass es aufgrund von Gallianos persönlichen Problemen seit einiger Zeit Spannungen im Unternehmen gab. Sein aufgestauter Frust sei dann eben in unüberlegten antisemitischen Beleidigungen zum Ausdruck gekommen.

Ausgerechnet Philippe Virgiti, eine der betroffenen Personen, die im Februar Anzeige gegen Galliano erstattet hatten und der den Vorfall mit seinem Handy filmte, bereut inzwischen den in Gang gesetzten Rechtsstreit. Denn der Designer strebt nun seinerseits ein Verfahren wegen Verleumdung an. Nun fürchtet der junge Mann, der übrigens gar kein Jude ist, von dem Star fertiggemacht zu werden. Darüber hinaus gab er der Zeitung Le Parisien gegenüber an, dass Galliano ihm leidtue, da er wohl einfach nur krank sei. Er habe sich näher über ihn informiert und glaube jetzt nicht mehr, dass er Antisemit sei.

Nicht alle, die im heterogenen Szeneviertel Marais leben, können so viel Verständnis für den Designer aufbringen. Gerade die jüdischen Anwohner sind empört. Der 22-jährige Eli, der auf der Terrasse eines Cafés die ersten Sonnenstrahlen genießt, hat für den prominenten Modeschöpfer kein Mitleid übrig: »Der braucht sich hier nicht mehr blicken zu lassen. Psychische Probleme hin oder her, wer Juden den Tod wünscht – und das noch dazu in unserem Viertel –, der gehört ins Gefängnis und nicht in eine Villa im Marais.«

Szeneviertel Gallianos Domizil liegt nicht nur im traditionellen Judenviertel, dessen Mischung aus historisch-jüdischen Einrichtungen und trendigen Restaurants unzählige Touristen anlockt, sondern der Bezirk ist auch ein beliebter Treffpunkt der Schwulenszene. Selbst, wenn es sich einige aufgrund der extrem hohen Mietpreise nicht mehr leisten können, hier zu wohnen, kommen sie doch gerne abends auf ein Glas in eines der angesagten Lokale.

Die Betreiber der vielen sogenannten Gay-Friendly-Bars wollen vom Galliano-Skandal jedoch nichts mehr hören. Sie reagieren gereizt und ablehnend, wenn man sie nach ihrer Meinung fragt. Aber unter den Gästen sind viele schockiert und finden es richtig, dass der Designer seinen Job bei Dior verloren hat.

Einige kritisieren auch, dass sich die Betreiber des La Perle bislang nicht von Galliano distanziert haben. Bereits im Oktober und Dezember sei er in derselben Bar durch antisemitische Parolen aufgefallen. Als es im Februar zu dem dritten Vorfall kam, sollen die Angestellten auch auf die Beschwerde der betroffenen Gäste hin nicht eingegriffen haben. Schließlich riefen diese aus Angst vor einer Eskalation des Streits selbst die Polizei, da die Barbetreiber partout nichts gegen ihren berühmten Stammgast unternehmen wollten.

Ein Sprung in der Scheibe zeugt noch von der Auseinandersetzung. Ein eiserner Stuhl war im Eifer des Gefechts gegen das Glas geprallt. Der Vorfall ist umso trauriger angesichts der Tatsache, dass sich die Bar nicht nur im jüdischen Viertel von Paris, sondern auch in unmittelbarer Nähe einer Schule befindet, deren Kinder im Dritten Reich deportiert wurden.

Öffentlichkeit Als Philippes Handy-Video von der britischen Zeitung The Sun im Internet verbreitet wurde und ein weiterer Bargast Anzeige erstattete, wurden Gallianos verbale Entgleisungen auch der breiten Öffentlichkeit bekannt. Das Haus Dior fürchtete um seinen Ruf und kündigte Galliano ohne Umschweife nach 15 Jahren erfolgreicher Zusammenarbeit. Bereits am 4. März war er vom großen Defilee der Pariser Modewoche ausgeschlossen.

Frankreichs jüdische Dachorganisation CRIF begrüßte die Entscheidung, und selbst Modezar Karl Lagerfeld ging mit seinem Kollegen hart ins Gericht. »Das wirft ein sehr schlechtes Licht auf die Modebranche. Am Ende hält man uns noch alle für Verrückte und Drogensüchtige!«, wetterte er in den Medien. Auch Stress lässt er nicht als Entschuldigung gelten: »Wenn man an der Spitze eines so großen Unternehmens steht, muss man den Laden am Laufen halten und darf sich nicht gehen lassen.« Wer mit diesem Druck nicht umgehen könne, müsse sich einen anderen Job suchen.

Das wird Galliano dann wohl auch tun, wenn er von seinem Klinikaufenthalt nach Paris zurückgekehrt ist, um sich auf den Prozess im Herbst vorzubereiten.

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