Schweiz

Auf dem eigenen Weg

»Off the Derech« zu gehen, ist für die meisten Menschen aus dem orthodoxen Judentum eine große Herausforderung. Nur wenige sprechen öffentlich darüber. Foto: Flash90

Die diesjährigen Feiertage waren für David und seine Familie keine – oder besser: keine mehr. Es waren ganz gewöhnliche Tage, an denen die vierköpfige Familie einfach ausruhen wollte. Zum ersten Mal überhaupt feierten sie in dieser ansonsten für jüdische Menschen oft hektischen Zeit einfach nichts. Zum ersten Mal kostete David jüngst einen Döner, den er sich um die Ecke geholt hatte. Zum ersten Mal hatte seine Frau, die genauso wie er unerkannt bleiben möchte, vor Kurzem ihren Scheitel abgelegt.

Das junge Paar ist an der Schwelle zu einem neuen Leben. Das klingt vielleicht verlockend, bildet jedoch den Anfang eines intensiven Prozesses, der mit vielen Konsequenzen verbunden ist. »Nicht mehr religiös zu leben, bedeutet in unserer aktuellen Situation auch eine große Einsamkeit«, sagt David.

Denn die Menschen aus seinem privaten Umfeld beschäftigen sich durchgehend mit religiösen Fragen. Er will das nicht mehr. »Natürlich erfolgte die Entscheidung nicht über Nacht.« Es habe keinen zündenden Moment gegeben, vielmehr machte sich in ihm über Jahre hinweg eine große Orientierungslosigkeit breit.

Zum ersten Mal hatte seine Frau vor Kurzem ihren Scheitel abgelegt.

»Im Leben eines orthodoxen, jungen jüdischen Mannes dreht sich alles um die Familie. Man drängt dich in diese Heiratsecke. Wenn du mit 30 Jahren noch nicht verheiratet bist, denken die anderen von dir, etwas stimme nicht oder du seist schwul.« David war nicht mehr bereit, diesem Druck standzuhalten. »Ich wollte zwar irgendwann heiraten, aber ich wollte Zeitpunkt und Frau selbst wählen.« Und alle anderen persönlichen Entscheidungen ebenfalls selbst treffen.

David, der als Psychotherapeut arbeitet, hat sich wie nahezu alle Aussteiger jahrelang mit der Frage auseinandergesetzt: Wer bin ich, und was will ich? Er begab sich selbst in Therapie, »was sich in mir wie ein flächendeckender Waldbrand anfühlte«. Nur langsam komme er an den Punkt, an den er wolle. »Aber ich stelle fest, dass ich es noch nicht schaffe, nur die schönen Aspekte der Religion auszuleben und diese meinen Kindern zu vermitteln.«

Wer sagt das Kaddisch nach ihrem Tod?

Unüberlegte Kommentare und blöde Sprüche seien immer wieder aus dem alten Umfeld zu hören. »Die religiöse Welt versteht nicht, dass ein Ausstieg auch moralische Standards und Selbstverantwortung aus eigener Überzeugung und nicht aufgrund der Halacha verlangt.« Seitdem sich David in der orthodoxen Welt nicht mehr religiös praktizierend zeigt, hätten sich auch seine Eltern von ihm abgewendet.

»Sie haben Schwierigkeiten, den Kontakt im gleichen Maß aufrechtzuerhalten. Am Wichtigsten ist ihnen offenbar, dass meine Kinder noch jüdisch heiraten werden und wer das Kaddisch nach ihrem Tod sagt.« In solchen Momenten empfinde er Wut. Glücklicherweise, so sagt er, halte seine Frau zu ihm und durchlaufe einen ähnlichen Prozess. »Das ist keinesfalls selbstverständlich. Viele Beziehungen scheitern an der Loslösung des einen Partners.«

Die meisten Ehen im orthodoxen Judentum sind arrangiert. Auch die von Nathan. Aber er und seine Frau leben in einer glücklichen Partnerschaft, obwohl Nathan die Religion bereits vor 15 Jahren verlassen hat. »Meine Frau ist nach wie vor religiös praktizierend. Für sie kommt ein Ausstieg nicht infrage.« Für ihn ist klar, dass der Ausstieg für Frauen viel schwieriger ist als für Männer. »Sie sind durch die traditionellen Strukturen mehr an die Familie gebunden und tun sich mit dem Austritt schwer.«

In vielen ultraorthodoxen und chassidischen Gemeinschaften spielen Frauen eine klar definierte Rolle, die stark auf Ehe, Mutterschaft und häusliche Pflichten ausgerichtet ist. In extremen Fällen riskieren Frauen, das Sorgerecht für ihre Kinder zu verlieren, da in solchen Gemeinschaften die Männer und Familien oft versuchen, die aussteigenden Frauen zu isolieren oder ihnen den Kontakt zu den Kindern zu erschweren. Da sie in patriarchalisch geprägten Gemeinschaften aufgewachsen sind, kann die Ablehnung durch Familie und Freundeskreis besonders schmerzhaft sein. Dies führt bei vielen Frauen zu Depressionen, Angstzuständen oder Identitätskonflikten.

Für einige Frauen nur schwer zu ertragen

Für sie spielen auch Fragen der sexuellen Selbstbestimmung und körperlichen Autonomie eine Rolle. In ultraorthodoxen Gemeinschaften gibt es strenge Regeln in Bezug auf Körperlichkeit, Sexualität und Interaktionen zwischen den Geschlechtern, was für einige Frauen schwer zu ertragen ist. Ebenso schlimm sei es für Menschen, die LGBTQ sind. »Das doppelte Coming-out kann sehr belastend sein.« Der innere Wunsch nach Freiheit stehe oft in direktem Konflikt mit der Verantwortung gegenüber den Eltern oder den eigenen Kindern.

Ein amerikanischer Charedi sagte einmal: »Nur wenige Menschen verlassen die Orthodoxie, aber jeder von ihnen schreibt ein Buch darüber.« Dieser bittere Kommentar referiert auf Publikationen, die es in den vergangenen Jahren auf internationale Bestsellerlisten geschafft haben. Die meisten Aussteiger sind allerdings weder laut noch öffentlich wahrnehmbar. Im Gegenteil, sie führen lange ein Doppelleben oder wollen in der Öffentlichkeit wie die meisten in diesem Artikel nicht mit Klarnamen erscheinen.

In Israel und in den USA gibt es Vereinigungen wie »Footsteps«, die Menschen, die die Entscheidung getroffen haben, ihre Gemeinschaft zu verlassen, dabei helfen, sich in den alltäglichsten Dingen des Lebens zurechtzufinden. Dabei geht es meist um soziale, schulische oder rechtliche Unterstützung. Ehemalige Mitglieder ultra­orthodoxer Gemeinden wie die Satmarer oder Skverer waren sozial so isoliert und deshalb vielfach kulturell dermaßen desorientiert, dass sie in praktischer Hinsicht verloren sind. Oft auch haben Frauen nicht die gleiche weltliche Bildung oder Berufserfahrung wie Männer. In Deutschland und in der Schweiz ist das weniger der Fall. Menschen, die hier aussteigen, sind meist gut ausgebildet. Dennoch müssen sie sich im neuen Leben erst einmal zurechtfinden.

»Off the Derech«

Samuel Friedmann verteilte vor einigen Jahren im Züricher Stadtteil Wiedikon, wo die ultraorthodoxe Gemeinschaft größtenteils lebt, Aufkleber mit der Aufschrift »Derachim« (Hebräisch für Wege). Darunter stand seine Telefonnummer. Immer wieder rief jemand heimlich an, wollte anfangs nicht preisgeben, wer er oder sie war. Wie groß die Anzahl derer ist, die das ultraorthodoxe Milieu verlassen wollen, ist nicht bekannt. Für Zurückgebliebene sind die Aussteiger »off the Derech« – abseits des Weges. Ein Ausdruck, der zu einem stehenden Begriff geworden ist.

Friedmann, selbst ein Aussteiger, behagt die Bezeichnung nicht: »Für mich hat ›off the Derech‹ etwas Beleidigendes. Jeder geht seinen eigenen Weg.« Er stieg vor über zehn Jahren aus. Seine Pejes schnitt er sich bereits als Junge ab. Torastudium und Jeschiwa waren dennoch Pflicht, genauso wie die Gründung einer eigenen Familie, obwohl er selbst fast noch ein Kind war. Dann kamen die Scheidung und der Eintritt ins »neue Leben«. Für den heute 42-Jährigen war der andere ein schwieriger Weg.

»Es brauchte lange, bis ich vor jedem Schabbat, den ich nicht mehr hielt, und jedem Bacon, den ich aß, kein schlechtes Gewissen mehr hatte.« Doch es ging nicht nur darum, die Kaschrut zu brechen, sondern generell darum, »was man alles nicht darf. Denn alles steht geschrieben. Plötzlich begeht man etwas vermeintlich Verbotenes – trotzdem schlägt kein Blitz ein«. Es war wie ein Erwachen aus einem blinden Zustand für Friedmann. »Gleichzeitig sieht man die Enttäuschung in den Augen der Eltern oder Geschwister. Damit muss man erst einmal klarkommen.«

Albträume hätten ihn lange geplagt und die Frage, wie er mit seinen Eltern umgehen sollte. »Dass man einfach ein guter Sohn ist, der seine Eltern liebt, gilt nicht.« Friedmann hat den Zugang zu seinen Eltern wiedergefunden – oder sie zu ihm. Das Verhältnis sei wieder herzlich. Er besucht sie regelmäßig, hin und wieder sogar am Schabbat. Aber mit Religion kann er heute nicht mehr viel anfangen.

Welchen Schnürsenkel zuerst binden?

Grundsätzlich ist der Übergang von einem stark reglementierten Leben zu einem freieren, säkularen Lebensstil schwierig. »Wenn die Religion mir vorgibt, wie ich morgens aufzustehen habe und welchen Schnürsenkel ich zuerst binden soll, dann bekommt jeder Aspekt deines Lebens eine Bedeutung. Alles, was man tut, ist unglaublich wichtig. Wenn das wegfällt, musst du dich neu erfinden. Plötzlich lebst du in einer Welt, in der du dich erst zurechtfinden musst«, sagt Michael. Er ist Wissenschaftler, was vermutlich kein Zufall ist. Die Wissenschaft hat ihn seit jeher interessiert. »Sie war mein Tor zur Außenwelt«, erzählt er – aber auch sein Weg, die eigene Wahrheit und damit die persönliche Freiheit zu finden. Ein langer, steiniger Weg.

Mehrere Jahrzehnte dauerte für Michael die Ablösung von der Orthodoxie. »Ich bewundere die jungen Menschen, die diesen Weg schon früh gehen können. Ich brauchte sehr lange und musste mir erst vollständig sicher sein, bevor ich den Mut dazu hatte.«

Dann erinnert er sich, wie er im Winter einmal neben einem jungen Chassid auf dem Skilift gesessen habe. »Wir kamen in dieser kurzen Zeit zwischen Tal- und Bergstation ins Gespräch und sprachen wortwörtlich über Gott und die Welt. Der fromm anmutende Mann erzählte mir, dass er Atheist sei.« Das beeindruckte Michael. Heute geht er noch einen Schritt weiter, indem er die orthodoxe Form des Judentums komplett ablehnt.

Was hinderte ihn daran, sich früher, wie er sagt, »aus den Fesseln der Orthodoxie zu befreien«? Michael antwortet sofort: »Ich wurde zu einer Zeit geboren, als der Wiederaufbau des Judentums nach dem Krieg ein wichtiges Thema war. Auch war meine Mutter Holocaust-Überlebende. Dinge infrage zu stellen, ist für die Menschen, die ihr Leben riskiert haben, nicht einfach. Die Bande zur Mutter war eng.« Da gehe man nicht einfach hin und sage, das war es jetzt mit der Religion.

Dabei habe er schon im Alter von fünf Jahren gespürt, »wie das alles irgendwie nicht stimmen konnte«. Obwohl sein Vater ein studierter Mann war, war das Umfeld doch »sehr schwarz«, sprich sehr religiös. Michael hatte mit dem Besuch der Jeschiwa eine für einen jungen jüdischen Mann klassische Laufbahn eingeschlagen. »Ich habe jeden Tag dort gehasst, es waren vergeudete Jahre.« Viel später machte er sich auf den Weg, nach Antworten zu suchen. Und er fand sie.

Er besucht seine Eltern auch am Schabbat. Aber mit Religion kann er nicht mehr viel anfangen.


Er studierte Biologie, Physik und Kosmologie, beschäftigte sich mit jüdischer Geschichte und Archäologie. »Ich wollte Belege finden, die vermeintliche religiöse Fakten, die wir in den heiligen Schriften lesen, widerlegen. Vieles ist nicht verifizierbar, archäologisch gar nicht möglich. Deshalb verstehe ich nicht, weshalb man alles als absolute Wahrheit annimmt. Ein Donner entsteht nicht dadurch, dass zwei Wolken zusammenprallen? Soll das meine Wahrheit sein?«

Michael hatte lange Mühe damit, dass er in seiner Tätigkeit als Wissenschaftler anders zu denken habe als in der Rolle des jüdischen Mannes, »der dann zu Hause wieder an die Engel glaubt«. Vielleicht sei an diesem persönlichen Prozess, den er über all die Jahre hinweg durchmachte, auch seine Ehe gescheitert. Seine Kinder sind bis heute religiös. Das störe ihn nicht. »Wenn ich eingeladen bin, ziehe ich meine Kippa an und freue mich, mit meinen Kindern zu sein. Sie wissen, dass ich nicht mitbete.«

Es liege ihm fern, jemanden zu überzeugen. Gleichzeitig habe es ihn sehr berührt, als er sich von seinem Sohn verstanden gefühlt habe, obwohl dieser keinerlei Zweifel am Glauben habe. Aber es gab auch andere Momente, zum Beispiel, als er einer sehr frommen Frau half und sie es ihm mit »Sie können ja immer wieder zurückkommen« dankte. Ein Zurück gibt es für ihn nicht. »Endlich weiß ich, wer ich bin.«

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