Drei Jahre ist es her: Anita Winter steht mit ihrer Mutter auf dem Bahnhof in Baden, einer kleinen Stadt bei Zürich, in der sie geboren wurde und aufgewachsen ist. Als ein langer Güterzug vorbeifährt, wendet sich die Mutter ab – für die Tochter ein fast alltägliches Erlebnis. »Sie kann bis heute diese Züge nicht sehen und ihren Lärm nicht hören«, erzählt Anita Winter.
Ihre Mutter wurde zu Beginn des Zweiten Weltkriegs zusammen mit deren Mutter und einem jüngeren Bruder in so einem Güterzug deportiert. Zwar konnten sie unterwegs abspringen und so ihr Leben retten, doch das Gefühl blieb. Anita Winters Vater flüchtete als Kind aus Deutschland in die Schweiz. Er war nach der Reichspogromnacht vorerst allein in Berlin geblieben, nachdem seine Familie nach Liechtenstein ausreisen konnte. In der neutralen Schweiz gab es später ein glückliches Wiedersehen. Nach dem Holocaust begegneten Anita Winters Eltern einander, verliebten sich und gründeten in der Schweiz eine große Familie – Anita Winter hat noch drei Geschwister.
Verfolgung Für die junge Frau, die nach ihrem Ökonomiestudium in der florierenden Textilfirma ihres Vaters arbeitet, ist das Thema Verfolgung stets präsent: »Bevor meine Mutter abends ins Bett ging, musste sie sich stets versichern, dass ihre Schuhe und im Winter auch ihr Mantel griffbereit dalagen, damit sie jederzeit flüchten könnte.« Auch das eine traumatische Reaktion auf die schrecklichen Jahre.
Von solch persönlichen Erlebnissen bis zur Gründung einer Stiftung, die sich derer annimmt, die in einem der reichsten Länder der Welt als Schoa-Überlebende von versteckter Armut betroffen sind, ist es für Anita Winter aber noch ein ziemlich langer Weg.
Auslösendes Ereignis sei ein Essen mit einem früheren israelischen Sozialminister in Jerusalem gewesen, sagt sie. Der Politiker meinte nämlich auf ihre Frage, was der jüdische Staat seiner Meinung nach hätte besser machen sollen, selbstkritisch: »Wir haben die Schoa mit all ihren Auswirkungen verdrängt.« Die Israelis seien so sehr mit dem Aufbau des Landes beschäftigt gewesen, dass die Überlebenden, die in den jüdischen Staat kamen, sie nicht wirklich interessiert hätten.
Diese Aussage überraschte Anita Winter zwar nicht unbedingt, aber sie erschütterte sie dennoch derart, dass sie beschloss zu handeln. Nachdem sie durch Nachforschungen und dank der Claims Conference ziemlich schnell herausgefunden hatte, dass in der Schweiz mehr als 80 Schoa-Überlebende in schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen leben (die Dunkelziffer dürfte um ein Vielfaches höher sein), gründete sie mit Unterstützung ihrer Familie eine Stiftung und nannte sie nach den Vornamen ihrer vier Kinder Gamaraal-Stiftung. »Angesichts des hohen Alters der Überlebenden wussten wir, dass die Zeit drängt.« Was Winter freut, ist, dass die Behörden in der als bürokratisch verschrienen Schweiz sofort kooperiert und sie unterstützt haben.
Einwanderer Die Gründe, warum es auch in der Schweiz Schoa-Überlebende gibt, seien vielfältig, erzählt Anita Winter. So nahm die Eidgenossenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg Kinder und Jugendliche auf, nicht wenige von ihnen blieben im Land. Außerdem »akzeptierte die Schweiz nach dem Ungarn-Aufstand 1956 und dem Prager Frühling 1968 Tausende Flüchtlinge aus diesen Ländern. Und viele von ihnen waren jüdisch.« Hinzu kamen Menschen, die sich aus privaten oder beruflichen Gründen in der Schweiz niederließen.
Am 27. Januar 2015, dem 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz, tritt die Stiftung zum ersten Mal an die Öffentlichkeit. Anita Winter wird vom Schweizer Rundfunk zu ihrer Stiftung befragt – und löst damit zahlreiche Reaktionen aus. »Zum einen melden sich Opfer, die bisher mit keinem Menschen über ihr Schicksal sprechen wollten, weil sie sich auch 70 Jahre später noch dafür schämen«, sagt Winter. Da ist zum Beispiel die heute 83-Jährige, die mit ihrem Mann und ihrer Tochter im Kanton Zürich lebt und kürzlich vom Zürcher Tages-Anzeiger porträtiert wurde. »Keiner weiß, dass sie eine Auschwitz-Überlebende ist«, heißt es da. »Das soll auch so bleiben, selbst in der ereignislosen Biederkeit einer Zürcher Vorortgemeinde.« Solche Sätze verfehlen auch in der Schweiz ihre Wirkung nicht.
Reaktionen Anita Winter erhält seit einiger Zeit neben Angeboten, bei der Freiwilligenarbeit mitzuhelfen, auch positive Reaktionen von Nachkommen der Täter, denn auch die gibt es im Land, das vom größten Krieg der Menschheitsgeschichte verschont blieb. »Eine Frau aus Basel offenbarte sich mir diskret als ein Kind von Nazi-Eltern und fragte, wie sie mir helfen könne«, erzählt Winter. Das sei ein bewegender Moment gewesen.
Inzwischen konnte die Gamaraal-Stiftung auch schon ganz praktisch Hilfe leisten. So haben Personen, die als bedürftig anerkannt wurden, zu verschiedenen Gelegenheiten finanzielle Zuwendungen erhalten. Vor allem zu den jüdischen Feiertagen soll solche Hilfe gewährt werden. Das sei wichtig, betont Anita Winter. In besonderen Fällen gibt es auch Zuschüsse für Haushaltshilfen, Transporte sowie für die medizinische und zahnmedizinische Behandlung. Anfragen können jederzeit eingereicht werden.
Es erstaunt, dass solch eine Stiftung nicht schon in den 90er-Jahren gegründet wurde, als die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg weltweit beleuchtet wurde. Damals ging es vor allem um jene Schoa-Überlebenden, die sich in den USA, Israel oder anderen Ländern niedergelassen hatten, nicht aber in der Schweiz. Dank Anita Winter ist das Versäumnis nun behoben.