Buenos Aires

Argentinien vor den Wahlen

Javier Milei am 13. August in seiner Wahlkampfzentrale in Buenos Aires nach Schließung der Wahllokale während der Vorwahlen Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS

Argentiniens Präsidentschaftswahlkampf geht zu Ende. Die zweite Fernsehdebatte der Kandidaten und Kandidatinnen hat mit harten Auseinandersetzungen über Sicherheit, Wirtschaft und Korruption die Temperatur nochmal erhöht.

Die rechte Oppositionskandidatin Patricia Bullrich, zeigte sich wesentlich offensiver als in der ersten Runde und attackierte den Kandidaten der linksperonistischen Regierungskoalition Sergio Massa und den ultrarechten Javier Milei. Es war eine erwartete Strategie: Bullrich liegt in den Umfragen vor den Wahlen am 22. Oktober an dritter Stelle hinter Milei und Massa und muss Stimmen gewinnen, um in die Stichwahl im November zu gelangen.

Dass der rechtsextreme Kandidat Milei in die Stichwahl einziehen wird, daran bestehen kaum Zweifel. In Teilen der jüdischen Gemeinde aber sorgt er für Unbehagen. In der ersten Fensehdebatte wiederholte der 52-jährige Ökonom und selbsternannte »Anarchokapitalist« sein radikales Wirtschaftskonzept aus Dollarisierung, Steuersenkungen, Privatisierungen und Abbau staatlicher Institutionen. Mit den von ihm vorgeschlagenen Reformen »könnte Argentinien in 15 Jahren einen Lebensstandard erreichen, der mit dem von Italien oder Frankreich vergleichbar ist«, so Milei, »wenn Sie mir 20 Jahre Zeit geben, mit dem von Deutschland, und wenn Sie mir 35 Jahre Zeit geben, mit dem der Vereinigten Staaten«.

Angesichts einer Jahresinflation von mehr als 120 Prozent und anhaltender Rezession verfängt Mileis radikaler Diskurs mit einfachen und eindringlichen Antworten vor allem bei jungen Menschen und Wählern, die das politische System satt haben.

FASZINATION Er verstehe die Faszination der jungen Leute für Milei, sagt Kevin Ary Levin, Präsident von Meretz Argentina, dem argentinischen Ableger der linken israelischen Partei. Sie hätten »ihr ganzes Leben die Verschlechterung der argentinischen Wirtschaft miterlebt« und wollten »etwas anderes ausprobieren«.

Der frühere Rockmusiker, Tantra-Sex-Guru und Wirtschaftsprofessor Milei, den der Politikwissenschaftler William Callison als »reaktionäre Mutation des Neoliberalismus« bezeichnet, verspricht, »die politische Kaste« Argentiniens zu vernichten, propagiert das freie Tragen von Waffen, ist gegen Abtreibung und nennt den Klimawandel eine »sozialistische Lüge«.

Levin hält Milei für gefährlich. »Seine Partei ist von Verschwörungstheorien durchsetzt. Aus jüdischer Sicht ist es eine Partei, in der es von Antisemiten und Nazis nur so wimmelt.« Levin verweist auf Mileis Kandidatin für die Vizepräsidentschaft, Victoria Villaruel, die die Verbrechen der Militärdiktatur rechtfertigt, oder Mileis Bildungsberater Martin Krause, der mit kruden Holocaust-Vergleichen harte Kritik jüdischer Verbände auf sich zog. Milei selbst kokettiert mit einer Nähe zum Judentum und gibt sich als Freund Israels.

»Wir sehen, dass ein Kandidat, dem das Judentum am Herzen liegt, paradoxerweise von Nazis umgeben ist«, sagt Levin. Er sieht darin »eine Form der Manipulation«. Milei habe natürlich das Recht, zu glauben, woran er wolle, »aber die Einbeziehung jüdischer Symbole in die Wahlkampagne, das Zitieren der Tora im Kongress (…), all das ist eine bizarre, unbeholfene, aus dem Zusammenhang gerissene Verwendung von jüdischen Symbolen, die hier nicht hingehören«.

offener Brief Zusammen mit anderen hat Levin einen offenen Brief mit dem Titel: »Juden Argentiniens bekräftigen: Milei repräsentiert uns nicht« veröffentlicht, in dem unter anderem die »Besorgnis über Mileis Hassrede« zum Ausdruck gebracht und der »politische Gebrauch des Judentums, seiner Texte und Symbole« durch Milei verurteilt wird.

Man habe »wohl den Nerv vieler Juden getroffen«, sagt Levin angesichts der großen Resonanz. Aber es gab auch Vorwürfe aus der Gemeinde, mit dem Brief werde versucht, im Namen aller Juden in Argentinien zu sprechen. Levin widerspricht. Es sei deutlich, dass man nur im Namen derjenigen spreche, die unterschreiben.

»Das ganze Land ist über Milei gespalten; die Gemeinde ist da keine Ausnahme. Ein Teil der Kritik, die wir erhalten haben, ist, dass Milei der pro-jüdischste und Pro-Israel-Kandidat in der Geschichte Argentiniens ist«, so Levin. Doch man habe gelernt, dass sich die Faszination für Israel und antisemitische Elemente nicht ausschließen. Einige rechte Politiker bewunderten Israel unter anderem deshalb, weil ihnen das Modell eines rechten Ethnonationalismus gefällt, sagt er. »Das ist eine sehr dekontextualisierte Sicht auf Israel und mit Antisemitismus durchaus vereinbar: Man kann die Juden in Israel mögen, ohne die lokalen Juden zu mögen, vor allem, wenn sie progressiv sind wie in Argentinien.« Es gehe nicht nur darum, pro- oder anti-israelisch zu sein, sondern solidarisch zu sein mit dem schwächsten Teilen der Gesellschaft, sagt Levin.

RABBINER Auch das Gemeindemitglied Alejandro Kronik ist hin- und hergerissen, wenn es um Milei geht. »Ich weiß, dass er einen Rabbiner hat, er hat Leute, die Teil der Gemeinde sind. Was ich nicht mit Sicherheit sagen kann, ist, ob es eine Frage der Hingabe, des Glaubens oder des Marketings ist«, so 58-jährige Unternehmer aus Buenos Aires.

Cecilia Denot, Bildungskoordinatorin von »Stand With Us Argentina«, einer internationalen, überparteilichen Bildungsorganisation, verweist darauf, dass sich Milei bislang »der jüdischen Gemeinde gegenüber aufgeschlossen und freundlich zeigt, auch wenn sein tatsächlicher Einfluss auf die Politik im Falle eines Wahlsiegs noch nicht beurteilt werden kann«. Generell gebe es »in Argentinien keine größeren Probleme mit Antisemitismus«, sagt sie. Das spiegele sich in den positiven Beziehungen der wichtigsten Kandidaten gegenüber der jüdischen Gemeinde und Israel wider. Auch verurteilten Milei, Bullrich und Massa unisono den Terror der Hamas gegen Israel.

WIRTSCHAFT »Massa hat ein sehr gutes Verhältnis zur jüdischen Gemeinde und zu Israel«, so Denot. Anlass zur Besorgnis gebe eher die wirtschaftliche Situation, für die Massa als Wirtschaftsminister mitverantwortlich ist. Während der 51-Jährige im Ausland, insbesondere in den USA, für sein Krisenmanagement gelobt wird, ist er im Inland weniger beliebt.

Auch Kronik ist gar nicht gut auf Massa zu sprechen. »Ich mag Massa an sich nicht, denn wie wir hier sagen: Wenn er seine Mutter verkaufen will, verkauft er sie.«

Kronik will für Bullrich stimmen: »Ihr Ehemann stammt aus der Gemeinde, ist Vorsitzender des Holocaust-Museums in Buenos Aires. Sie ist sehr pro-israelisch.« Auch findet er, habe sie als Sicherheitsministerin in der Regierung Mauricio Macri (2015–2019) »sehr gute Arbeit« geleistet.

Denot und Levin heben ebenfalls die enge Verbindung der 67-Jährigen zur jüdischen Gemeinde hervor. Sie habe sich im Wahlkampf im Werben um die Stimmen der Milei-Anhänger aber nach rechts bewegt, konstatiert Levin. Kronik glaubt nicht, dass ihr das etwas nützen wird. »Die argentinische Bevölkerung ist so genervt von den Politikern, die wir hatten, sodass es eine Protestwahl für jemanden geben wird, von dem wir nicht wirklich wissen, ob er regieren kann – und das ist Milei.«

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