An Jom HaSchoa, dem 6. Mai, habe ich einige Orte der Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023 besucht. Während ich im Süden Israels, im Kibbuz Be’eri und auf dem Gelände des Nova-Musikfestivals, war und sich das Grauen vor meinen Augen abzeichnete, las ich von einem neuerlichen Auftritt meines Premierministers, dem flämischen Liberalen Alexander De Croo. Seiner Meinung nach sollten wirtschaftliche Sanktionen gegen Israel verhängt werden.
Der Premier möchte gerne moralisch sein. In Wahrheit aber besteht seine Moral darin, sich unter dem Deckmäntelchen von Prinzipien dem Druck der Straße zu beugen. Selbst dann, wenn der Preis dafür die Verfolgung jüdischer Bürger Belgiens ist.
Ebenfalls in der ersten Maiwoche besetzten radikale Studierende an der größten Universität in Brüssel ein Gebäude. Der Co-Vorsitzende der Union jüdischer Studenten Belgiens wurde auf dem Gelände der Universität bedrängt. Zuvor hatte De Croo noch erklärt, dass er, wäre er noch Student, ebenfalls für Solidarität mit den Palästinensern demonstrieren würde.
Ich bin über all das nicht mehr schockiert. In Belgien wird seit vielen Jahren eine offen antiisraelische Politik betrieben. Mehr noch: Hier fehlt der Wille, dem grassierenden Judenhass wirksam entgegenzutreten.
Eigentlich kann ein demokratischer Staat es sich nicht leisten, der Tyrannei nachzugeben, egal, wer diese ausübt, egal, von woher sie kommt. Demokratien haben die Pflicht, ihre Minderheiten zu schützen.
Doch in Belgien explodiert gerade der Antisemitismus. Jeder weiß, dass ein Zusammenhang besteht zur Situation im Nahen Osten. Das wird seit Jahren konstatiert, auch von unseren Gerichten.
Aber die politische Verantwortungslosigkeit kennt kaum Grenzen: Man schürt lieber die Glut des Hasses, anstatt sie zu löschen. Wählerstimmen (in Belgien werden am 9. Juni die föderalen und regionale Parlamente gewählt) sind wichtiger als der Kampf gegen Antisemitismus.
Die jüdische Minderheit schreit nicht laut auf. Sie ist zahlenmäßig zu klein. Beteuerungen wie »Wir sind nicht antisemitisch«, »Wir sind dem internationalen Recht verpflichtet« und »Ein Europa ohne Juden wäre kein Europa mehr…«, sie klingen hohl. Und sie überzeugen niemanden mehr in der jüdischen Gemeinschaft.
Man kann sich nicht zum Verfechter des Völkerrechts oder des Kampfes gegen Rassismus machen, wenn man zulässt, dass der Judenhass wächst und die Sicherheit vieler jüdischer Bürger bedroht ist. Das bedeutet natürlich nicht, dass man nichts Kritisches mehr sagen darf. Aber wenigstens sollte man sich der Realität stellen.
Wenn zur Freilassung der Geiseln der Hamas aufgerufen wird, stigmatisiert das die muslimische Gemeinschaft Belgiens nicht. Wenn man seine Solidarität mit einer angegriffenen Demokratie bekundet, resultiert daraus keine Gewalt gegen die Muslime. Wenn aber hasserfüllte Demonstrationen zugelassen, Israel des Völkermords und Deutschland der Mittäterschaft bezichtigt, zu Wirtschaftssanktionen oder zu einem akademischen oder wirtschaftlichem Boykott Israels aufgerufen wird, steigt der Antisemitismus. Der Zusammenhang ist eindeutig.
Belgiens Politiker wissen (oder sollten wissen), dass sie mit ihren Worten indirekt zur Gewalt und zur Polarisierung im eigenen Land beitragen. Ein Mindestmaß an politischer Verantwortung und Anstand würden ausreichen, um diesen Trend umzukehren. Doch bei der überwältigenden Mehrheit unserer Politiker fehlen diese schmerzlich. Sie sind nur allzu nachgiebig gegenüber all jenen, die den Nahostkonflikt in unser Land importieren wollen.
Dabei sollten sich Belgiens Politiker die Frage nach ihren langfristigen Interessen und denen ihrer Kinder stellen. Wollen sie in Frieden und Freiheit leben oder lieber kurzfristigen Ambitionen, die von Klientelismus und zynischem Utilitarismus geprägt sind, nachgeben?
Es gibt einen Ausweg, aber er erfordert ein gründliches Nachdenken. Wir müssen unsere nationale Identität auf der Grundlage gemeinsamer Werte definieren. Geschieht das nicht, besteht die Gefahr, dass Belgien durch eine falsch verstandene Identitätspolitik noch mehr zersplittert, als das bereits der Fall ist.
Es läge im Interesse aller Belgier, würde die Politik hierzulande sich einmal Gedanken machen über den Nahostkonflikt und den bevorstehenden Wahltermin hinaus.
Der Autor ist Rechtsanwalt in Brüssel und war von 2016 bis 2023 Vorsitzender des jüdischen Dachverbandes CCOJB in Belgien sowie Vizepräsident des Jüdischen Weltkongresses (WJC).