Was tätliche Angriffe auf Juden oder Sachbeschädigungen an jüdischen Einrichtungen angeht, wirkt die Schweiz auf den ersten Blick wie eine Insel der Seligen. Ausweislich des am Dienstag vom Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG) veröffentlichten Jahresberichts zum Antisemitismus wurden für 2019 in dieser Kategorie keine Vorfälle gemeldet – zumindest nicht in der Deutschschweiz. In einem separaten Bericht für den französischsprachigen Landesteil wurden dagegen einige wenige Fälle von judenfeindlicher Gewalt registriert.
Insgesamt 38 Vorfälle listet der SIG-Bericht auf, die in der »realen Welt« (also jenseits des Internets) stattfanden. Darunter waren neun Beschimpfungen und sieben Fälle von Schmierereien. Das sei im Vergleich zu den Nachbarländern der Schweiz niedriger, sagte SIG-Generalsekretär Jonathan Kreutner dieser Zeitung, auch wenn es eine Dunkelziffer gebe.
VERSCHWÖRUNGSTHEORIEN Er wies aber darauf hin, dass die Zahl der erfassten antisemitischen Äußerungen im Internet, insbesondere klassische Verschwörungstheorien, auf einem ähnlichen Niveau sei wie zum Beispiel in Deutschland. »Das Potenzial für mögliche Hassverbrechen, wie wir sie in Halle und in Hanau, aber auch in den USA erlebt haben, ist also in der Schweiz durchaus vorhanden, und wir müssen aufpassen«, so Kreutner.
Der Staat habe in den letzten Jahren deutlich mehr für die Sicherheit jüdischer Einrichtungen getan, wofür den Behörden auch Dank gebühre. Das Problem möglicher Anschläge durch radikalisierte Einzeltäter dürfe man trotzdem nicht auf die leichte Schulter nehmen, betonte der SIG-Generalsekretär. Kreutner forderte die Schweizer Politik auf, auch hier wachsam zu sein und initiativ zu werden.
SOZIALE NETZWERKE Mehr als 90 Prozent der erfassten Online-Vorfälle stammten laut Bericht von den Social-Media-Plattformen Facebook und Twitter. Nur ein sehr kleiner Teil wurde in den Kommentarspalten der Websites Schweizer Zeitungen gepostet.
Bei der Verteilung antisemitischer Vorfälle spielten sogenannte »Trigger« eine zentrale Rolle, hebt der SIG-Bericht hervor, also Anlässe oder Ereignisse, die für einen begrenzten Zeitraum eine signifikant höhere Anzahl an antisemitischen Vorfällen zur Folge haben. Besonders im Internet würden viele antijüdische Kommentare durch solche Trigger beziehungsweise die mediale Berichterstattung darüber ausgelöst.
International sind das vor allem Ereignisse im Nahen Osten. Viele antisemitische Kommentare und Posts wurden 2019 besonders durch die Berichterstattung über das Urteil gegen den Rechtsextremisten Kevin G., einen Artikel über den Raketenbeschuss gegen Israel aus dem Gazastreifen, einen Bericht über die streng religiöse jüdische Gemeinschaft in Zürich sowie durch das Attentat in Halle und die Berichte über das neue Album der rechtsextremen Band »Amok« getriggert.
»NILPFERDE« Laut Bericht waren die gravierendsten Vorfälle 2019 der verbale Angriff eines Mannes vor einem Betlokal in Zürich, der drohte, alle Juden umzubringen, sowie ein »Amok«-Lied, in dem der Angriff auf einen orthodoxen Juden durch Kevin G. verherrlicht wird und Juden als »Nilpferde« tituliert werden, die zum Abschuss freigegeben seien.
In einem anderen gemeldeten Fall echauffierte sich der Hausmeister eines Hotels in einem Touristenort über die zahlreichen Autos jüdischer Gäste auf dem Parkplatz, die ihn seiner Meinung nach bei der Arbeit behinderten. Auf Nachfrage, ob ein Problem bestünde, sagte er: »Ja, die müsste man alle …« und deutete dann mit der Hand einen Kehlenschnitt an.
MELDESTELLE Der SIG betreibt eine Antisemitismus-Meldestelle. Über ein Kontaktformular, telefonisch oder per E-Mail können Vorfälle gemeldet werden, die selbst erlebt oder beobachtet wurden. Mittels Kontaktaufnahme und Recherche wird daraufhin verifiziert, ob der Vorfall wirklich so stattgefunden und ob es sich dabei tatsächlich um einen antisemitischen Vorfall gehandelt hat.
Gegebenenfalls wird auch die Glaubwürdigkeit der Zeugen oder anderer involvierter Personen überprüft. Erst nach Abschluss dieser Verifizierung kommt der Vorfall auf die Liste der antisemitischen Vorfälle des betreffenden Jahres, hebt der Dachverband hervor.
Darüber hinaus betreibt der SIG auch ein aktives Medien-Monitoring im Hinblick auf judenfeindliche Vorfälle. Separat davon wird im Internet, vor allem in den sozialen Netzwerken und den Kommentarspalten der Online-Zeitungen, recherchiert.