Als Eva Geiringer acht Jahre alt ist, marschieren deutsche Truppen in Wien ein. Österreich wird von Nazi-Deutschland einverleibt. Am 13. März 1938, einen Tag nach der Annexion, wird Evas älterer Bruder Heinz von Schulkameraden angegriffen, weil er Jude ist.
»Das Blut lief ihm aus dem Gesicht, seine Kleidung war völlig zerrissen«, erinnert sich die heute 92-Jährige. »Als meine Eltern ihn fragten, was passiert sei, sagte er: ›Meine alten Freunde haben mir das angetan, und meine Lehrer haben zugesehen.‹ «
flucht Auch Freunde und Nachbarn der Familie wenden sich von der Familie ab. Die Geiringers verlieren mit dem »Anschluss an das Deutsche Reich« ihre österreichische Staatsangehörigkeit und bekommen neue Pässe. Die weisen sie als jüdisch aus. Noch 1938 gelingt der Familie die Flucht, zunächst nach Belgien und nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in die Niederlande.
In Amsterdam freundet sich Eva mit einem Mädchen aus ihrem Wohnblock an: Anne Frank. Als Jüdinnen müssen beide den gelben Stern tragen. Als die Razzien der deutschen Besatzer zunehmen, tauchen beide Familien getrennt voneinander unter.
An Evas 15. Geburtstag, dem 11. Mai 1944, werden die Geiringers verhaftet und kurze Zeit später nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Ein Doppelagent des niederländischen Untergrunds hat sie an die Deutschen verraten.
In Auschwitz sieht sie ihren Vater mehrmals wieder. Doch weder Erich Geiringer noch Evas Bruder Heinz überleben das Todeslager. Eva und ihre Mutter Elfriede (»Fritzi«) haben dagegen Glück. Auch Otto Frank, der Vater von Anne, überlebt Auschwitz. Seine Töchter Margot und Anne werden auf den Todesmarsch nach Bergen-Belsen geschickt, wo sie 1945 sterben.
Noch in Auschwitz trifft Otto Frank auf Mutter und Tochter Geiringer. Nach einer Odyssee durch die Sowjetunion werden Fritzi und Eva Geiringer wieder vereint. Fritzi heiratet nach ihrer Rückkehr nach Amsterdam Otto Frank. Sie stirbt 1998.
LONDON Eva siedelt 1951 nach London über, um Fotografie zu studieren. Dort heiratet sie später den israelischen Bankier Zvi Hans Schloss (1925–2016), einen gebürtigen Münchner, dessen Familie 1938 die Flucht vor den Nazis nach Palästina gelungen war.
Seit dem Tod ihres Stiefvaters Otto Frank 1980 ist Eva Schloss als Zeitzeugin der Schoa in der Bildungsarbeit engagiert. 2012 erscheint ihr Buch Eva’s Story, 2015 auch in deutscher Sprache. Darin erzählt sie ihre eigene Lebensgeschichte und auch die ihrer 1945 in Bergen-Belsen ermordeten Stiefschwester Anne Frank.
»Meine Geschichte erzählt Anne Franks Geschichte dort weiter, wo Annes Tagebuch aufhört. Sie ist sozusagen eine Fortsetzung des Tagebuchs der Anne Frank, die Geschichte, die sie selbst nicht mehr erzählen konnte. Aber ich kann es, weil ich überlebt habe. Ich erzähle die Geschichte eines Mädchens, das so alt ist wie Anne, mit dem sie in Amsterdam gespielt hat, und diese Geschichte zeigt, was mit Anne – und uns allen – geschehen ist, nachdem man uns verraten und verhaftet hatte.«
ERINNERUNGSARBEIT Eva Schloss ist Mitbegründerin des Anne Frank Trust UK. Seit vier Jahrzehnten hilft sie dabei, die Erinnerung an ihre Stiefschwester wachzuhalten und vor allem jüngere Menschen über den Holocaust aufzuklären. »Ich habe sehr, sehr hart daran gearbeitet, die Einstellung der Menschen zu ändern. Jede Person, die man davon überzeugt, kein Rassist zu sein, ist ein Gewinn.«
Schloss und ihr mittlerweile verstorbener Mann nehmen die britische Staatsbürgerschaft an. »Ich könnte nirgendwo anders mehr leben«, sagt Eva Schloss heute. Zvi Schloss lehnt es zeitlebens ab, die deutsche Staatsbürgerschaft wiederzuerlangen.
Doch vor einigen Tagen begab sich die Schoa-Überlebende in ein schmuckes Gebäude im vornehmen Londoner Stadtteil Belgravia. Dort wurde ihr eine Urkunde ausgehändigt über das, was ihr und ihrer Familie mehr als 83 Jahre zuvor weggenommen worden war: die österreichische Staatsangehörigkeit.
AUSZEICHNUNGEN Zudem bekam sie den Verdienstorden der Republik Österreich ausgehändigt. Es war nicht der erste seiner Art: 2013 wurde Schloss von Königin Elizabeth II. in den Order of the British Empire aufgenommen. Schon 2001 verlieh ihr die Northumbria University die Ehrendoktorwürde.
Auch Tochter Jacky und Eva Schloss‹ Enkelkinder nahmen vergangene Woche die Staatsangehörigkeitsurkunde aus den Händen von Botschafter Michael Zimmermann entgegen. »Als ich Österreich verließ, war ich sehr verbittert. Es hat lange gedauert, bis ich darüber hinweggekommen bin«, sagte Schloss der BBC.