Kolumbien

Angst vor Konvertiten

Manchmal hilft nur noch Hilfe aus dem Ausland. Vor zwei Jahren machte sich Rabbiner Nir Koren von Mexiko auf den Weg nach Cali, der drittgrößten Stadt Kolumbiens, um die tiefen Gräben in der etablierten Gemeinde zuzuschütten und Kontakt zu neu gegründeten Gemeinden zu knüpfen. »Als ich in Cali ankam, war die Situation alles andere als einfach. Die Beziehungen zwischen den drei Synagogen waren distanziert, manche Gemeindemitglieder wollten mit anderen nichts mehr zu tun haben. Für eine kleiner werdende jüdische Gemeinschaft mit gerade einmal 800 Mitgliedern ist das eine verheerende Situation«, erklärt Koren.

Der 36-jährige Rabbiner stammt ursprünglich aus Jerusalem. Mit seiner Familie ist er für einige Jahre ins Ausland gegangen, um religiösen Beistand zu leisten und zu vermitteln. Zuerst war er im mexikanischen Cancún, nun ist er in Cali. Allerdings nicht mehr lange, denn sein Vater ist schwerkrank. Demnächst will die Familie nach Jerusalem zurückkehren. Bis dahin jedoch sollen die Weichen auf Einigung und Verständigung gestellt werden.

Gründerzeit Nir Koren sitzt in Granada, einem schicken Stadtteil im Norden von Cali. Dort hat die Sociedad Hebrea de Socorros, die jüdische Hilfsgesellschaft, in einem Gründerzeitgebäude, umgeben von hohen Mauern, ihren Sitz.

Der weiße Bau ist weitläufig, die Räume sind großzügig bemessen mit Stuck an den Decken. Es ist kaum zu übersehen, dass die Gemeinde einst glänzende Zeiten und weit mehr Mitglieder hatte als heute. »Wir haben inzwischen viele Ältere und nur wenige Junge«, erklärt der Rabbiner. »Die Jugend wandert ab. Die Altersgruppe der 25- bis 50-Jährigen fehlt uns fast komplett.«

An der Altersstruktur der Gemeinde wird sich in absehbarer Zeit kaum etwas ändern, denn es fehlt der Nachwuchs. Aus ebendiesem Grund wurde die jüdische Schule »Jorge Isaac« vor einiger Zeit geschlossen und das Gebäude verkauft.

Wer sich in der Gemeinde umhört, erfährt schnell, dass viele jüngere Mitglieder keine Perspektive mehr in Cali sehen. Es fehlt an attraktiven Jobs. Viele zieht es in die Hauptstadt Bogotá oder gleich ins Ausland. Es gibt Gemeindemitglieder, deren Kinder in Miami oder Panama arbeiten. Diejenigen, deren Kinder wie die von Edith Wertheimer noch in Kolumbien leben, sind mittlerweile in der Minderzahl.

Edith Wertheimer betreibt gegenüber dem jüdischen Gemeindezentrum eine kleine koschere Bäckerei. Die feinen Torten und Kekse von »Omas Deli« sind in der Gemeinde genauso beliebt wie deren Kaffeespezialitäten. Der Betrieb besteht bereits in dritter Generation und hat in der Stadt seine Spuren hinterlassen.

Früher war es gang und gäbe, dass sich Mitglieder der Gemeinde für allgemeine Belange in Cali engagierten. »Gemeinsam mit anderen Frauen habe ich die Intensivstation der Unikinderklinik mit aufgebaut – es ist eine der größten und modernsten des Landes«, erklärt Lillian Alexandrovich. Sie ist so etwas wie der gute Geist an der Spitze der Gemeinde. Sie kümmert sich um die Finanzen, ist Ansprechpartnerin für Kulturevents und eine stets zu Scherzen aufgelegte, lebenslustige Frau.

Sie arbeitet als Anwältin und lebt nur ein paar Hundert Meter oberhalb des weißen Gründerzeitgebäudes in einem Apartmenthaus mit prächtigem Ausblick auf das Stadtzentrum von Cali. Ihr Mann Simón ist der Grund, weshalb sie zum Judentum übertrat. »Aber nicht der einzige, denn ich habe mich in der besten Mädchenschule Calis mit vielen Jüdinnen angefreundet.« Später ging sie ans Konservatorium, studierte Klavier und lief dann irgendwann ihrem Mann über den Weg. Das war kein Zufall, denn der hat einen Hang zur Klassik und hatte mit einigen Freunden einen Verein gegründet, der in der Stadt Konzerte organisiert. Da war es nur eine Frage der Zeit, bis sich der in Rumänien geborene Jude und die christliche Caleña, so werden die Frauen aus Cali in Kolumbien genannt, über den Weg liefen.

Strukturen Die jüdische Gemeinde Cali besteht aus einem sefardischen, einem deutschen und einem aschkenasischen Zweig. Die Sociedad Hebrea de Socorros repräsentiert den deutschen. Dafür stehen Gemeindemitglieder wie Edith und Julio Wertheimer von der koscheren Bäckerei. Doch der Einfluss dieser Gründerfamilien nimmt ab, und vor allem jene, die wie Lillian Alexandrovich zum Judentum übergetreten sind, haben mehr und mehr das Sagen.

Die Zahl der Konvertiten ist in Kolumbien in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Eine ganze Reihe neuer Gemeinden, sogenannte comunidades emergentes, gibt es in Cali, und längst nicht überall sind sie gern gesehen – »weil viele ihrer Mitglieder aus einfachen sozialen Verhältnissen kommen«, erklärt Lillian Alexandrovich. Sie selbst hat keine Probleme mit diesen Neuankömmlingen. Doch viele in ihrer Gemeinde sehen es anders. Sie tun sich schwer damit, dass sich die Gemeinde, die sich in den vergangenen Jahren immer verschlossener zeigte, nun öffnen soll. »Ich denke, wir müssen viel aktiver nach außen agieren und dürfen uns nicht hinter den alten Mauern verschanzen«, mahnt Rabbi Koren.

An einigen Stellen funktioniert die Öffnung bereits. So posierte kürzlich Lillian Alexandrovich mit ihrer Freundin Aida, die ebenfalls übergetreten ist, sowie mit Edith Wertheimer und einem Angestellten der Synagoge vor »Omas Deli« für ein Foto. Sie riefen lachend: »Wir sind eine integrative Gemeinde.«

Der Rabbiner sah zu und lachte. Er weiß genau, dass es in der Stadt mittlerweile sechs neue kleine Gemeinden gibt, deren Mitglieder nicht als Juden geboren sind, sondern vor einem Rabbinatsgericht zum Judentum übergetreten sind. Diese »Hinzugekommenen« würden in Cali leider nicht mit offenen Armen empfangen, sagt Koren, aber sie seien eine Chance, um die alternde Gemeinde neu zu beleben.

Doch die Begeisterung hält sich in Grenzen, auch wenn innerhalb der Gemeinde inzwischen klar ist, dass an der Öffnung kein Weg vorbeiführt. »Aber in welchem Tempo und unter welchen Bedingungen, darüber lässt sich streiten«, sagt Lea hinter vorgehaltener Hand. Sie ist Anfang 50 und will ihren Familiennamen lieber nicht preisgeben, denn sie weiß nur zu gut, dass die Gräben innerhalb der Gemeinde noch längst nicht zugeschüttet sind. Die Animositäten schwelen unter der Decke weiter.

Inzwischen sehen immer mehr Gemeindemitglieder keine Alternative zur Öffnung und glauben, dass bei der Kontaktaufnahme vielleicht die Tatsache helfen könnte, dass sich die zum Judentum Übergetretenen untereinander organisieren und sich an jüdische Organisationen in Bogotá wenden.

»Die Zahl der Menschen, die bei den Rabbinern anrufen, weil sie zum Judentum übertreten wollen, nimmt zu – und das steht im Widerspruch zu den Juden, die ihr Judentum weniger aktiv betreiben«, erklärt Rabbi Koren. Das sehe nicht nur er so, sagt er, sondern viele seiner Kollegen. Angesichts der Anfeindungen, denen das Judentum immer wieder ausgesetzt ist, sei das doch aber positiv, findet er. Deshalb wirbt er dafür, die Vertreter der sechs neuen jüdischen Gemeinden, die es in Cali gibt, zumindest einmal einzuladen, um die Leute kennenzulernen und zu sehen, ob man zusammenarbeiten kann.

Ansatzpunkte dafür gibt es reichlich. Die jüdische Gemeinde unterhält mehrere Sozialprojekte, bei denen Hilfsbedarf besteht. »Die Ausstattung der Intensivstation der Kinderklinik ist dafür genauso ein Beispiel wie ein Hilfsprojekt für bedürftige Familien und Freizeitangebote für Kinder. Überall seien Helfer nötig, sagt Lillian Alexandrovich. Sie weiß, dass man mit den derzeitigen Strukturen das Gemeindeleben nicht mehr lange aufrechterhalten kann. Seien es der Chor, Konzerte oder die Sozialprojekte – »wir müssen uns den Konvertiten öffnen, oder wir müssen schließen«.

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