Michel Serfaty ist mit seinem schwarzen Hut und seinen 1,92 Metern Körpergröße leicht zu erkennen. Auch nach dem Angriff auf Israel am 7. Oktober geht der französische Rabbiner in Schulen und Jugendzentren, um die Toleranz zwischen den Religionen zu predigen.
Seit mehr als 40 Jahren macht er das schon. Und selbst das Hamas-Massaker mit 1400 Toten hält ihn nicht davon ab, die Arbeit seiner Vereinigung der jüdisch-muslimischen Freundschaft AJMF fortzusetzen. »Wir sind natürlich besorgt. Aber wir müssen weitermachen«, sagt der 80-Jährige.
Die meisten der rund 130 Mitglieder seiner Gemeinde in Ris-Orangis, einer Vorstadt von Paris, leben seit dem 7. Oktober in Angst. Sie wissen, dass die antisemitischen Angriffe zugenommen haben. Mehr als 800 Zwischenfälle zählte Frankreichs Innenminister Gérald Darmanin seither, wie er am Montag mitteilte. »Es herrscht eine Art Zügellosigkeit, was die Hassparolen angeht«, warnte er.
HÖRSAAL Besonders stark ist das an den Universitäten des Landes zu spüren, wo »Tod den Juden« nicht nur auf der Toilette zu lesen, sondern auch im Hörsaal zu hören ist, wie jüdische Augenzeugen im Kurznachrichtendienst X berichten. Bereits vor dem Hamas-Angriff gaben 91 Prozent der jüdischen Studierenden an, bereits Ziel einer antisemitischen Tat gewesen zu sein. Körperlich angegriffen wurden sieben Prozent.
In Frankreich leben die größte jüdische und die größte muslimische Gemeinde Europas.
Schon seit Jahren finden Ereignisse in Israel und den Palästinensergebieten ihr Echo in Frankreich, wo die größte jüdische und die größte muslimische Gemeinde Europas leben. Bereits während des Gaza-Kriegs 2014 stieg die Zahl antisemitischer Taten an. Im Pariser Vorort Sarcelles, in dem Juden und Muslime jahrzehntelang friedlich zusammengelebt hatten, wurden jüdische Geschäfte verwüstet.
Zahlreiche jüdische Familien wanderten damals nach Israel aus – wo die Hamas-Terroristen bei den Massakern am 7. Oktober auch 35 Französinnen und Franzosen ermordeten.
Nachdem der Antisemitismus zunächst von rechtsextremen Parteien wie dem Front National ausging, hat sich sein Gesicht inzwischen verändert. »Der zeitgenössische Antisemitismus nimmt neue Formen an: die der Verschwörungstheorien, des Islamismus und des Hasses auf Israel«, sagte der Vorsitzende des jüdischen Dachverbandes CRIF, Yonathan Arfi, im Frühjahr dem Magazin »Le Point«.
Mélenchon Die Rechtspopulistin Marine Le Pen, die sich um eine »Normalisierung« des inzwischen umbenannten Front National bemüht, stellte sich nach dem Hamas-Angriff an die Seite Israels. Der starke Mann der Linkspartei La France Insoumise (LFI), Jean-Luc Mélenchon, weigerte sich dagegen, den Hamas-Terror zu verurteilen. Der einstige Präsidentschaftskandidat griff zudem die Vorsitzende der Nationalversammlung, Yaël Braun-Pivet an, deren jüdische Familie vor den Nationalsozialisten nach Frankreich geflohen war. Er warf der 52-Jährigen, die mit einer Parlamentsdelegation zu einem Solidaritätsbesuch nach Israel gereist war, vor, »in Tel Aviv zu kampieren, um zu Massakern zu ermutigen«. Die Politikerin, die seit Jahren antisemitisch beschimpft wird, zeigte sich schockiert. Mélenchon habe ihr eine neue Zielscheibe an den Rücken geheftet, sagte sie in einem Radiointerview.
Die internationale Liga gegen Rassismus und Antisemitismus (Licra) kritisierte den »wahltaktischen Antisemitismus« Mélenchons. Der 72-Jährige zielt auf die Wählerschaft der Musliminnen und Muslime, die vor allem in den Banlieues der Großstädte leben. Untersuchungen zufolge ist dieser Bevölkerungsteil für antisemitische Vorurteile besonders anfällig.
So sind laut einer Studie der konservativen politischen Stiftung Fondapol aus dem vergangenen Jahr mehr als 50 Prozent der Ansicht, dass Jüdinnen und Juden zu viel Einfluss in den Medien sowie in Finanzwelt und Wirtschaft haben. Die Werte liegen bis zu 30 Prozentpunkte über dem, was der Durchschnitt der französischen Bevölkerung denkt. »In den Problemvierteln ist der Hass auf Juden besonders groß«, sagt auch Rabbiner Serfaty.
Inzwischen verzichten viele Juden auf UberEats, Deliveroo und Co.
Bereits zweimal war die jüdische Gemeinde Frankreichs in den vergangenen Jahren Ziel eines Attentats: 2012 tötete der Islamist Mohammed Merah in einer jüdischen Schule in Toulouse drei Kinder und einen Rabbiner. 2015 erschoss Amedy Coulibaly, der sich zur Terrororganisation Islamischer Staat bekannte, im koscheren Supermarkt Hyper Cacher im Osten von Paris vier Juden.
SICHERHEIT Am 7. Oktober wurde die Bewachung jüdischer Einrichtungen deshalb deutlich verstärkt. In Straßburg, wo eine große jüdische Gemeinde mit mehr als 20.000 Mitgliedern lebt, wurde vor der Synagoge am Contades-Park ein 15-Jähriger mit einem Messer festgenommen. Rabbiner, aber auch orthodoxe Juden seien bereits auf der Straße beschimpft worden, berichtet Thierry Roos, Vize-Präsident des israelitischen Konsistoriums im Departement Bas Rhin. Mehrere Haltestellen des Verkehrsbetriebs CTS seien außerdem mit antisemitischen Parolen beschmiert worden.
Straßburgs muslimische Gemeinde habe besonnen auf die Hamas-Attacke reagiert, bemerkt Roos. Autoren der antisemitischen Hetze seien oft junge Muslime, die über die sozialen Netzwerke von Islamisten Fake News aufsaugten. Roos erinnert an einen Zwischenfall aus dem Jahr 2021, als sich ein algerischer Mitarbeiter des Lieferdienstes Deliveroo geweigert hatte, eine Bestellung in zwei jüdischen Restaurants in Straßburg aufzunehmen. »Ich liefere nicht an Juden«, sagte der junge Mann, der zu einer Haftstrafe verurteilt und ausgewiesen wurde.
Seit dem Hamas-Angriff verzichten viele Jüdinnen und Juden nun auf UberEats, Deliveroo und Co. Nachdem in Paris die Tür eines über 80-jährigen jüdischen Paares angezündet wurde, das eine Mesusa am Eingang angebracht hatte, nahmen andere jüdische Familien ihre Mesusot ab. Viele Männer verstecken ihre Kippa unter Schirmmützen.
Michel Serfaty, der 2003 selbst Ziel eines antisemitischen Angriffs war, setzt sein Engagement für die muslimisch-jüdische Verständigung dennoch unbeirrt fort. »Man muss die Angst bekämpfen«, sagt der Rabbiner. Seine Arbeit scheint sich auszuzahlen: Im Département Essonne, wo er lebt, wurden seit dem 7. Oktober kaum antisemitische Übergriffe registriert.