Frau Skenazy, Sie treten in Ihrem Buch »Free Range Kids« für eine freie Erziehung ein. Was heißt das?
Alles fing damit an, dass ich meinen neun Jahre alten Sohn in New York alleine mit der U-Bahn fahren ließ. Ich habe darüber eine Kolumne geschrieben. Zwei Tage später war ich das Thema in jeder nur denkbaren Talkshow in den USA und musste mich dort rechtfertigen. Und das, obwohl ich durchaus ein Sicherheitsbedürfnis habe, denn jüdische Mütter sind nicht gerade für die Fähigkeit bekannt, Gefahren zu umarmen.
Sie sind die perfekten Helikopter-Mütter …
Offenbar ist es ja so, dass unsere Kinder heutzutage immer in Gefahr sind: Was sie essen, sehen, anfassen, lesen und so weiter. Wir müssen nicht immer eine solch überzogene Angst haben. Denn Angst ist kein guter Ratgeber. Wenn man immer nur Angst hat, dürfen die Kinder am Ende nur noch im Haus bleiben. Man hört auf, seiner Umwelt zu vertrauen. Wohin soll das führen? Der Faktor Angst verändert unsere ganze Gesellschaft. Er ist das »Worst First Thinking«.
Wie konnte es soweit kommen: Die Erwachsenen von heute sind doch auch groß geworden, ohne, dass ständig jemand um sie herum war?
Die Medien sind heutzutage so viel präsenter als früher. Gab es damals gerade mal 30 Minuten lange Nahrichten, gibt es heute 24 Stunden am Tag Berichte über nur jede kleine Nachricht. Wenn ich meine Vorträge halte, werde ich oft nach Madeleine McCann gefragt. Das Mädchen, das in Portugal aus einem Hotel verschwunden ist. Ich frage dann immer zurück, ob sich die Menschen denn an irgendein anderes Ereignis aus Portugal erinnern – was sie nicht tun. Aber für das amerikanische Publikum gibt es keine andere Geschichte aus Portugal als die eines verschwundenen, weißen Mädchens der gehobenen Mittelschicht. Die Medien suchen nach einer solchen Geschichte.
Und das Publikum nimmt sie an.
Ja. Ich erzähle Ihnen ein weiteres Beispiel: Im Bundesstaat Washington hat eine Gemeinde entschieden, alle Schaukeln abzuschaffen, weil laut einer Studie die Schaukeln das Gefährlichste auf dem Spielplatz seien. Dabei fällt keinem auf, dass Kinder, die sich nicht bewegen und sich nur innerhalb des Hauses aufhalten, auf lange Sicht ein sehr ungesundes Leben führen und ein höheres Risiko haben, an Diabetis zu erkranken. Jeder scheint heute ein Experte zu sein, und der Markt, nervösen Eltern Geld aus der Tasche zu ziehen, ist riesig. Es gibt die absurdesten Dinge. Wenn man die Eltern erst einmal geängstigt hat, ist der Rest ein Kinderspiel.
Bald beginnen die Sommercamps. Welchen Rat geben Sie besorgten Eltern, die ihre Kinder vielleicht eher ungern ins Machane fahren lassen?
Nun, wenn man an die besten Momente seiner eigenen Kindheit denkt, dann waren es doch die Momente in den Sommercamps, denn dort waren die Eltern nun gerade einmal nicht dabei. Ich gebe bei meinen Vorträgen immer den Rat: Denken Sie an ihre eigene Kindheit. Warum sollte ihr Kind zerbrechlicher oder dümmer sein als Sie? Lassen Sie es genauso viel Spaß haben wie sie selbst hatten. Man muss Kinder ihre Erfahrung machen lassen, denn wenn sie diese bewältigen, wachsen sie daran.
Und wie lässt die jiddische Mamme ihr geliebtes Kind los? Gibt es Techniken?
Ich hatte dazu eine komplette Sendung. Der Rat ist: Machen Sie es einmal! Danach fällt es Ihnen leichter. Die Mütter können aufschreiben, wovor sie Angst haben, und wenn sie sehen, dass das Kind diese Erfahrung gemacht hat, dann werden sie stolz auf ihr Kind sein. Kochen Sie sich eine Tasse Kaffee, holen Sie sich jemanden, der mit Ihnen die Zeit, während ihr Kind unterwegs ist, verbringt. Dann wird alles gut.
Mit der Bloggerin sprach Katrin Richter.
www.freerangekids.com