Die Atlantic Avenue in Brooklyn, unteres Ende: Hier leben viele Syrer und Jemeniten. In Läden kann man neben Techina, Halva und gefüllten Weinblättern auch allerhand islamische Devotionalien kaufen: den Koran in vielen Ausgaben, die Hadith, also die Sprüche des Propheten, und Werke islamischer Schriftgelehrter. Über einem Ladeneingang steht »Islamic Garb«, islamische Kleidung. Ja, man sieht verschleierte Frauen – nicht viele, aber ein paar.
Aus einem Hinterhof kommen bärtige Männer in weißer Dschalabija, dem knöchellangen Gewand des traditionellen Muslims. Im selben Augenblick biegt ein Mann mit einer Kippa um die Ecke. Er geht genau auf die Gruppe traditionell-frommer Muslime zu. Der Beobachter aus Europa bleibt stehen und fasst die Szene ins Auge: Auweh, denkt er, das gibt Ärger. Zumindest böse Blicke, vielleicht Schlimmeres.
Der Besucher fischt das Mobiltelefon aus der Hosentasche, damit er im Notfall die 911 anrufen kann: »Eine Horde von Fanatikern, bitte kommen Sie schnell, sie fallen gerade über einen Juden her.« Aber nichts passiert. Der Mann mit der Kippa geht einfach durch die Gruppe von Muslimen hindurch. Keiner rempelt, keiner ruft etwas Unfreundliches. Es bleibt eine völlig zivilisierte Straßenszene, die man sich in manchen Gegenden von Paris, aber auch im Berliner Stadtteil Neukölln nur schwer vorstellen könnte.
Geheimnis Das Folgende ist ein gut gehütetes Geheimnis: Die Vereinigten Staaten von Amerika sind das einzige westliche Land, in dem Muslime gut integriert sind. Das war vor dem 11. September so, und das Massaker in Manhattan hat daran nichts geändert. Was heute gern vergessen wird: Der frühere US-Präsident George W. Bush hat eine Woche nach den Terroranschlägen eine Moschee besucht und gesagt, der Islam sei »eine Religion des Friedens«; die Terroristen hätten die ursprüngliche islamische Botschaft entstellt. Die eigentlich unsinnige Formulierung vom »Krieg gegen den Terror« prägte die Regierung Bush, weil sie nicht – was sachlich gewiss richtiger gewesen wäre – von einem Krieg gegen den radikalen Islam sprechen wollte: Der Religionsfrieden zu Hause sollte nicht gefährdet werden.
Die wütende Auseinandersetzung um die Ground-Zero-Moschee, die im vergangenen Jahr durch das Land tobte, hat das Verhältnis nicht nachhaltig vergiftet. Es handelt sich dabei um ein islamisch-interkonfessionelles Kulturzentrum, das zwei Häuserblocks von Ground Zero entfernt errichtet werden sollte – und jetzt vielleicht doch nicht gebaut wird, weil die Leute, die hinter dem Projekt stehen, heillos zerstritten sind.
Wo stehen bei alldem die Juden? Jede neue Umfrage – zuletzt eine Studie des Abu Dhabi Gallup Center im August – zeichnet ein ähnliches Bild: Amerikanische Juden haben weniger Vorurteile gegenüber amerikanischen Muslimen als es bei Christen oder jeder anderen Gruppe der Fall ist. Eine Mehrheit der amerikanischen Juden (80 Prozent) geht davon aus, dass die Muslime in Amerika sich den USA gegenüber loyal verhalten. Außerdem denken viele Juden, dass Muslime mit Ressentiments konfrontiert sind (tatsächlich glauben dies mehr Juden als Muslime). Beide Gruppen neigen bei Wahlen mehrheitlich dazu, für die Demokratische Partei zu stimmen.
Dass Juden und Muslime in den Vereinigten Staaten friedlich nebeneinanderher leben, liegt wohl auch daran, dass Letztere sich in soziologischer Hinsicht fundamental von ihren europäischen Cousins unterscheiden. Zunächst einmal ethnisch: Die meisten amerikanischen Muslime sind keine Araber (und die meisten Araber in Amerika sind keine Muslime, sondern Christen).
Werte Aber auch ökonomisch: Die amerikanischen Muslime sind im Durchschnitt gebildeter und reicher als ihre nichtmuslimischen Mitbürger. In Pennsylvania etwa gibt es eine türkische Gemeinde. Die meisten von ihnen sind Hochschulprofessoren oder erfolgreiche Unternehmer. Mit anderen Worten: Juden und Muslime gehören in Amerika etwa derselben sozialen Schicht an, der gehobenen Mittelklasse, und vertreten darum ungefähr dieselben Werte: arbeiten, sparen, die Kinder aufs bessere College schicken. Und was ist mit dem Nahost-Konflikt? Hier vertreten beide Gruppen ungefähr dieselbe Haltung: Die meisten amerikanischen Juden (die politisch eben eher auf der linksliberalen Seite des Spektrums anzutreffen sind) wünschen sich einen Palästinenserstaat. Die Muslime auch.
Gewiss handelt es sich nicht um eine lupenreine Idylle. Verschiedene Moscheen in Brooklyn werden vom FBI überwacht, weil sie verdächtigt werden, als Frontorganisationen für terroristische Vereinigungen wie die Hamas zu dienen. Stillschweigend ist auch der Polizeischutz für manche Synagogen ausgeweitet worden. 2006 haben fünf jüdische Jungen in Brooklyn einen Pakistani zusammengeschlagen, wobei sie »islamischer Terrorist« schrien. Ein Jahr darauf griff eine Gruppe von Muslimen einen Rabbi an.
Doch wenn man bei »Famous Pita« einkehrt, einem Schnellrestaurant in der Coney Island Avenue, dann sieht man die Koexistenz ganz physisch: Fromme Juden und fromme Muslime, beide bärtig, sitzen Seite an Seite und mampfen. »Famous Pita« ist glatt koscher, das heißt, das Essen gilt nach den islamischen Speisegesetzen als halal. Preiswert ist der Laden außerdem, also trifft man sich hier zum Lunch. Niemand hier glaubt, dass das etwas Besonderes wäre.