Vielen Schachexperten ist Jan Nepomnjaschtschi schon länger als Ausnahmetalent bekannt. In einigen Wochen erhält der 31-Jährige nun auch die Chance, die gesamte Sportwelt über sich sprechen zu lassen. Denn zwischen dem 24. November und dem 16. Dezember spielt der studierte Journalist um den Weltmeistertitel gegen Titelverteidiger Magnus Carlsen.
Das wurde durch Nepomnjaschtschis überraschend sicheren Sieg vor einigen Monaten beim Kandidatenturnier im russischen Jekaterinburg möglich. Dieses hätte eigentlich noch im April 2020 zu Ende gehen sollen – aufgrund der Corona-Pandemie wurde der Wettbewerb allerdings nach der Hinrunde unterbrochen und erst ein Jahr später fortgesetzt.
Als er fünf war, meldete sein Großvater ihn beim Schachklub an.
Nepomnjaschtschi, den man wegen der Schwierigkeiten mit der Aussprache seines Nachnamens oft verkürzt Nepo nennt, galt bei Weitem nicht als Hauptfavorit. In Bezug auf ihn herrschte die Meinung, dass er sein beinahe unendliches Potenzial lediglich zum Teil ausnutzt und keine nötige Stabilität vorweist, um ganz oben zu stehen.
Dies gibt Nepomnjaschtschi auch selbst zu. Er spricht offen darüber, dass er noch vor ein paar Jahren nicht professionell genug arbeitete. Unter anderem zeigte er sich zu viel von E-Sports begeistert und investierte viel Zeit vor allem in das Echtzeit-Strategiespiel DotA. »Es gab Tage, an denen ich 16 Stunden vor dem Computer verbracht habe. Das waren nicht nur Spiele, aber ich habe mich sehr ernsthaft damit beschäftigt.«
interessen Interessanterweise gehört DotA auch zu den Interessen seines künftigen Gegners, des Norwegers Carlsen. Die beiden, die einen freundlichen Umgang miteinander pflegen, diskutieren oft über laufende Events. Zu Nepomnjaschtschis anderen Interessen gehört die Teilnahme an verschiedenen Quiz-Wettbewerben.
»Früher wurde er stark von seiner Stimmung beeinflusst, was ihn ein wenig zurückgeworfen hat«, betont Magnus Carlsen. »Doch das ist Vergangenheit. Heute ist Nepomnjaschtschi einer der wenigen, die in der Lage sind, mich zu besiegen.«
Die Beziehung zwischen dem russischen Juden und dem Norweger hat tiefe Wurzeln. Im Jahr 2002 besiegte Nepomnjaschtschi Carlsen bei der Weltmeisterschaft der unter Zwölfjährigen. Nach diesem Sieg war nicht davon auszugehen, dass aus Carlsen und nicht aus Nepomnjaschtschi der weltweit dominierende Spieler wird. Nepomnjaschtschi war darüber hinaus sogar im Team, das Carlsen mit der Vorbereitung auf den Weltmeistertitel von 2016 half.
HERKUNFT Jan Nepomnjaschtschi ist derzeit einer von nur drei Spitzenschachspielern jüdischer Herkunft – durchaus untypisch für eine Sportart, in der Juden früher oft vorn waren.
In Brijansk, einer mittelgroßen Stadt rund 400 Kilometer südwestlich von Moskau, wo Jan Nepomnjaschtschi 1990 geboren wurde, war sein Großvater Boris ein bekannter jüdischer Dichter. Er war es, der seinen Enkel, als er fünf Jahre alt war, zum benachbarten Schachklub brachte.
Jan Nepomnjaschtschi bekennt sich zu seiner Herkunft, spricht aber selten darüber. Bekannt ist, dass seine Familie durchaus religiöse Traditionen pflegt. Und 2009 nahm Nepomnjaschtschi an der Makkabiade, der größten internationalen jüdischen Sportveranstaltung, teil.
Bereits im Alter von sieben Jahren gewann er die Meisterschaft seines Regierungsbezirks. Danach trat er bei gesamtrussischen Wettbewerben an, gewann regelmäßig internationale Meisterschaften und wurde in einem Atemzug mit den anderen Wunderkindern Carlsen und Sergey Karjakin genannt.
SCHRITTE Doch während Karjakin mit zwölf und Carlsen mit 13 Jahren Großmeister wurden, gelang es Nepomnjaschtschi erst mit 17. »Als ich zwölf war und dreimal hintereinander die EM gewann, bekam ich Starallüren«, erzählt der Sportler. »Auf einmal wollte ich nichts mehr machen. Ich dachte, alles würde jetzt von selbst kommen. Ich hätte damals mehr Schritte nach vorne machen können, habe aber rund zehn Jahre vergeigt.«
Erst vor etwa fünf Jahren wendete sich das Blatt: Ende 2017 in London, bei einem der sogenannten Superturniere – so heißen die seltenen Schachwettbewerbe mit den weltweit besten Spielern –, belegte Nepomnjaschtschi den zweiten Platz und besiegte Carlsen. Später kam ein beachtenswerter Sieg beim Superturnier in Dortmund hinzu. Und schließlich der Erfolg beim Kandidatenturnier, dem Schachwettbewerb mit der stärksten Besetzung.
»Das war der wichtigste Meilenstein in meiner Karriere, möglicherweise sogar in meinem Leben. Ich bin sehr müde. Ich will nicht wieder an einem Turnier teilnehmen, das länger als ein Jahr ausgetragen wird«, betont Nepomnjaschtschi in Anspielung auf die Kompliziertheiten der Corona-Krise.
»Ich kann ehrlicherweise nicht sagen, dass ich als Spieler stark zugelegt habe«, meint er mit Blick auf seine aktuellen Erfolge. »Viel wichtiger ist, dass ich die Sache mit einem anderen Ansatz angehe. Ich setze meine Zeit richtig ein, habe nun einen zweiten Trainer und arbeite an meiner physischen Form. Dass ich jetzt plötzlich zu den Top 5 gehöre, hat außerdem damit zu tun, dass ich mich nicht mehr für zweifelhafte Züge entscheide und alle Turniere mit der nötigen Ernsthaftigkeit wahrnehme.«
ELITE Zudem meint Nepomnjaschtschi, es sei für ihn von Nachteil gewesen, aus Russland zu kommen, denn es gebe viele Russen in der Elite, und die Veranstalter der Wettbewerbe sehen es nicht gern, dass eine Nation zahlenmäßig zu deutlich dominiert. »Als ich drittstärkster Russe war, wurde ich zu guten Turnieren nicht eingeladen. Jetzt ist das kein Problem, früher durfte ich aber meist nicht mitspielen. Und wenn man nicht an den besten Wettbewerben teilnimmt, ist es sehr schwer, im Ranking auf einen guten Platz zu kommen. Bei kleineren Turnieren muss man dann fast ausnahmslos gewinnen.«
Er meint, es sei von Nachteil gewesen, aus Russland zu kommen.
Die Schachexperten meinen, dass Carlsen zwar haushoher Favorit bleibt, Nepomnjaschtschi jedoch der Einzige ist, der gegen den Norweger eine realistische Chance hätte – auch dank früherer Siege.
Der 31-Jährige sieht das kommende Finale gelassen. Der führenden russischen Sportseite Sports.ru sagte er: »Natürlich hoffe ich auf das Beste. Doch Magnus spielt objektiv stärker als damals, als er Weltmeister wurde. In diesen zwei, drei Jahren hat er sich im theoretischen Bereich sehr verbessert. Das wird nicht leicht.«