Wie ihr richtiger Name lautet, weiß Anna Strizkowa nicht. Und auch ihren Geburtsort kennt sie nicht. Die Zahlenfolge 69929, die in ihren linken Unterarm eintätowiert ist, verrät zumindest, dass sie am 4. Dezember 1943 von Minsk nach Auschwitz deportiert wurde.
Nach ihrer Befreiung schätzten Ärzte, dass sie vermutlich 1941 geboren wurde. Ihren Geburtstag feiert sie am 1. Mai. Für das Datum hatten sich ihre Adoptiveltern entschieden, ein junges Ehepaar aus Kiew. Sie wünsche allen Kindern solche Eltern, wie sie sie gehabt habe, sagt Anna Strizkowa, ihre Eltern hätten alles getan, dass sie Auschwitz vergessen konnte.
Anna Strizkowa ist aus der Ukraine in das verschneite Oswiecim gereist, um den 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz-Birkenau zu begehen. Mit ihr sind rund 300 ehemalige Häftlinge an jenen Ort gekommen, »an dem unsere Zivilisation versagt hat«, wo den Menschen ihre Namen genommen und sie zu Nummern reduziert wurden, sagt der polnische Staatspräsident Bronislaw Komorowski bei der zentralen Gedenkfeier.
Kinder Es sind so viele Überlebende gekommen, wie es wohl nie mehr sein werden. Diejenigen, die aus aller Welt angereist sind, waren zumeist als Kinder oder Jugendliche in Auschwitz und Birkenau. Vielen von ihnen war der Name genommen worden. So wie Anna Strizkowa. Oder Frau Halina, die nur Blusen mit langen Ärmeln trägt oder sich ein Pflaster auf den rechten Arm klebt. Sie will die fünf dort eintätowierten Ziffern unsichtbar machen: 77252. Niemand solle wissen, dass sie ein »Auschwitz-Kind« sei, sagt Frau Halina und bittet darum, ihren Nachnamen nicht zu erwähnen.
Als Frau Halina nach Auschwitz kam, war sie zwei Jahre alt. Die Rote Armee rückte nach Westen vor, und so räumten die Deutschen im Frühjahr 1944 das Konzentrationslager Majdanek bei Lublin: Tausende Häftlinge wurden in Viehwaggons ins 400 Kilometer südöstlich gelegene Auschwitz geschickt, unter ihnen Frau Halina mit drei Geschwistern und ihrer Mutter.
An die neun Monate und zwölf Tage in Auschwitz hat Frau Halina keine Erinnerung. Auch nicht an den 27. Januar 1945. Die erste Erinnerung, die sie habe, sei ein warmes und helles Zimmer, sagt sie. In einem Sanatorium für Kinder. Weil dort niemand wusste, wie sie hieß und woher sie kam, wurde sie getauft und mit einem polnischen Namen versehen. Später wurde sie von einem Ehepaar aus Krakau adoptiert.
Frau Halina nimmt auch in diesem Jahr wieder an der Gedenkfeier teil, um diejenigen zu treffen, die sie verstehen: die anderen Auschwitz-Kinder, mit denen sie die schwerste Zeit verbracht hat, und die sie »meine Geschwister« nennt.
Zu ihnen zählt auch der 88-jährige Dawid Wisnia, der auf der Gedenkfeier das Trauergebet »El Male Rachamim« singt. So lange wie er war kaum ein anderer im Todeslager Birkenau: von Dezember 1942 bis Januar 1945. Gerettet habe ihn die Musik, sagt der Kantor, der sich nach der Befreiung seine Nummer entfernen ließ. Er wollte in den USA ein neues Leben beginnen und vergessen. Von der 83526 blieb allerdings die 6 stehen. Hier in Oswiecim, erzählt Wisnia, habe ihn die Vergangenheit wieder eingeholt: fürchterliche Albträume in der Nacht. »Ich war wieder im Todeslager.«
Jahrestag Eva Pusztai-Fahidi kam 1944 als knapp 19-Jährige in das Lager. Nur sie überlebte, ihre Eltern, die elfjährige Schwester und andere Mitglieder ihrer Familie wurden ermordet. An diesem Jahrestag der Befreiung gehört die ungarische Jüdin zur Delegation von Bundespräsident Joachim Gauck. Sie ist mit dem deutschen Staatsoberhaupt gemeinsam aus Berlin angereist. Vor 70 Jahren unvorstellbar, heute findet sie das »etwas ganz Fantastisches«.
Gauck kommt zum stillen Gedenken. Er wird neben Eva Pusztai-Fahidi von den Überlebenden Georg Kalisz und Marian Turski begleitet. Zur Delegation gehören auch der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Charlotte Knobloch, sowie Romani Rose, der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma.
Sie und die anderen Gäste erleben die anderthalbstündige Gedenkveranstaltung, hören das Grußwort von Polens Staatschef Komorowski, der Auschwitz eine »Hölle von Hass und Gewalt« nennt, und vernehmen die mahnenden Worte von Ronald S. Lauder, dem Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses, der seine Sorge darüber zum Ausdruck bringt, dass eine neue Welle des Antisemitismus über Europa fege. Junge Juden hätten heute in Paris, London Budapest und sogar in Berlin wieder Angst, eine Kippa zu tragen, erneut würden jüdische Geschäfte attackiert, erneut flöhen jüdische Familien aus Europa. Man fühle sich erinnert an 1933 und nicht an 2015, betont Lauder.
Eine berechtigte Mahnung, aber ein unpassender Vergleich, bemerkt Zentralratspräsident Schuster anschließend. Insgesamt findet er die Gedenkveranstaltung eindrucksvoll, obwohl ihm persönlich in dem am Eingangstor des Lagers eigens für die Zeremonie errichteten riesigen Zelt etwas »die Authentizität des Ortes« fehlt.
Ehrengäste Die Überlebenden Frau Halina, Anna Strizkowa, David Wisnia und Eva Pusztai-Fahidi sitzen bei der Gedenkfeier in den Reihen der Ehrengäste. »Im Mittelpunkt sollen die Überlebenden stehen«, hatte die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau im Vorfeld betont.
Und so kommen statt Politikern die Überlebenden zu Wort, die der Welt zurufen, sich der Grausamkeiten der Nazis zu erinnern und für Toleranz zu kämpfen. Roman Kent (85), Präsident des Internationalen Auschwitz Komitees, fasst in einem Satz zusammen, was die anderen in unterschiedlichen Worten ausdrücken: »Wir wollen nicht, dass unsere Vergangenheit zur Zukunft unserer Kinder wird.«