»Spinnst du, wieso bist du hier?« Ein Satz, den sich Jonathan O. immer und immer wieder anhören musste, nachdem er 2008 in Israel angekommen war. Auf diese direkte, israelische Weise hätten seine neuen Bekannten oft reagiert, sagt er – denn Jonathan O. kam nicht etwa aus Russland, Frankreich oder sonst einem Land, in dem antisemitische Vorfälle immer wieder Schlagzeilen machen, sondern aus der sicheren Schweiz. Jonathan O. wohnt heute in Herzliya und fühlt sich zu Hause – in Israel.
Mit Jonathan O. und einigen anderen befasst sich das letzte Kapitel zum Thema, »Alija von Schweizer Jüdinnen und Juden nach Israel« des von Jacques Picard und Daniel Gerson herausgegebenen Buches Schweizer Judentum im Wandel. Verfasst hat das Kapitel die Basler Historikerin Sabine Bossert.
selten Es ist besonders erwähnenswert, weil hier ein Aspekt zur Sprache kommt, der im Zusammenhang mit der jüdischen Gemeinschaft der Schweiz sonst eher selten thematisiert wird: die Tatsache, dass trotz des hohen Schweizer Lebensstandards und der geordneten politischen Verhältnisse relativ viele jüdische Schweizer in den vergangenen Jahren, aber auch schon vorher, ihre Zukunft im jüdischen Staat sahen und deshalb den Sprung von den Alpen an die asiatische Seite des Mittelmeeres wagten. Und sich dafür, wenigstens zeitweise, sozusagen zwischen alle Stühle setzten: Unverständnis wie oben geschildert in der neuen, bohrende Fragen aber auch in der alten Heimat Schweiz, welche die israelischen Neueinwanderer hinter sich gelassen haben.
Immerhin leben (Stand 2010) fast 15.000 Menschen mit einem Schweizer Pass in Israel. Zum Vergleich: In der Schweiz leben rund 18.000 Juden – eine Zahl, die seit Jahrzehnten fast unverändert ist.
persönlich Bosserts Aufsatz zeigt auch auf, dass es in vielen Fällen keine politischen (zum Beispiel Antisemitismus), sondern eher persönliche Gründe sind, die den Ausschlag für einen Landeswechsel geben. Und dass es dann oft entsprechend auch kleine Dinge des Alltags sind, die vermisst werden, wie beispielsweise das berühmte Schweizer Fondue, das zwischen Kiriat Schmona und Eilat normalerweise nicht zu bekommen ist, falls nicht gerade irgendwo Schweizer Wochen veranstaltet werden.
Weiter informiert Schweizer Judentum im Wandel, wie der Name schon sagt, aber auch über Veränderungen innerhalb des Schweizer Judentums: vor allem über dessen liberale Ausprägung, etwa im Aufsatz von Daniel Gerson über jüdische Reformbewegungen in der Schweiz zwischen 1950 und 2010. So dokumentiert Gerson beispielsweise einige Schwierigkeiten der Liberalen, sich gegenüber den orthodox geführten Einheitsgemeinden zu behaupten, vor allem in Zürich und Basel.
legendär Einfacher sei es in der Großstadt Genf gewesen, im Westen des Landes – noch heute ein Schweizer »Sonderfall«: Gerson erwähnt den »legendären« Rabbiner Hugo Gryn, der in den 50er-Jahren wegen eines Schneesturms an der Weiterreise nach London gehindert worden sei und spontan die Leitung eines Schabbatgottesdienstes übernommen habe – das gelte als Geburtsstunde der »English speaking liberal group/community«. Seither gilt Genf als guter Boden für das liberale Judentum der Schweiz.
Gerson geht dann auch auf die aktuelle Situation ein und zeigt auf, dass in Basel, obwohl hier viel weniger Juden leben als im Großraum Zürich, in Sachen liberales Judentum jüngst fast nachhaltigere Entwicklungen ablaufen als in der Limmatstadt: Während sich hier Or Chadasch als Alternative zur größten Gemeinde des Landes, der Israelitischen Cultusgemeinde (ICZ), quasi etabliert – womit das »Territorium« abgesteckt ist –, ist in Basel die Entwicklung breiter, gerade weil hier früher keine liberale Gemeinde gegründet wurde. Nun buhlen mit Ofek, Od Maschehu und vor allem Migwan gerade drei Gruppierungen um die Gunst der liberal eingestellten jüdischen Basler.
geprägt Migwan, stark geprägt von Zuwandern aus dem englischsprachigen Raum (was natürlich vor allem damit zu tun hat, dass Basel Sitz der beiden Pharma-Giganten Novartis und Roche ist), nennt sich inzwischen selbst Jüdische Gemeinde und verfügt über ein eigenes Gemeindezentrum.
Allerdings fehlt im Buch ein wenig das religiöse Gegengewicht: die spannende (jüngere) Entwicklungsgeschichte beispielsweise der Israelitischen Religionsgesellschaft Zürich (IRGZ), der größten orthodoxen Gemeinde des Landes. Sie hat es vielen Unkenrufen zum Trotz in jüngster Zeit durchaus verstanden, gerade für jüngere, orthodox lebende Menschen attraktiv zu sein – für Menschen, die sich andernorts nicht mehr unbedingt wohlfühlen. Darüber ist im Buch nichts zu erfahren – und das ist schade.
Jacques Picard und Daniel Gerson (Hrsg.): »Schweizer Judentum im Wandel«, Chronos, Zürich 2014, 344 S., 39,50 €