Vor einem Jahr, am jüdischen Feiertag Simchat Torah, hat sich vieles verändert. Für die Menschen in Israel, aber auch für uns Jüdinnen und Juden hier in der Schweiz und in der Welt.
Wir gedenken heute der Opfer des 7. Oktobers, aber natürlich auch denjenigen Geiseln, die sich nach einem Jahr noch immer unter grausamen Umständen in Gefangenschaft der Terroristen der Hamas befinden, sowie jenen, die inzwischen ermordet wurden.
Ich konnte mit Familienangehörigen von Geiseln sprechen. Es war herzzerreissend und es ist schwer vorstellbar, was die Geiseln und ihre Familien nun seit einem Jahr durchmachen. In Gedanken sind wir bei ihnen und hoffen weiter auf deren baldigen Freilassung.
Vor einem Jahr ist in der Schweiz der Konsens gereift, dass die Hamas als Terrororganisation verboten werden soll. Heute ein Jahr später stehen wir kurz davor, dass das Parlament die Hamas endlich auch in der Schweiz verbietet. Es ist höchste Zeit. Dieses Verbot ist ein Gewinn für die ganze Schweiz, für uns alle. Damit wir alle auch in Zukunft ein bisschen Sicherheit zurückerhalten.
Für die Menschen in Israel ist das Leben seit dem 7. Oktober auf den Kopf gestellt. Viele trauern um Familienangehörige, die am 7. Oktober getötet wurden oder in der Zeit danach im Kampf gegen die Hamas und ihre Verbündeten gefallen sind. Und fast jeder im Land fürchtet sich vor Raketenangriffen, die von allen Seiten gekommen sind und noch kommen können, und auch vor Terroranschlägen.
Für die Jüdinnen und Juden in der Schweiz, ist die Situation natürlich keineswegs vergleichbar. Aber auch viele von uns haben Familie und Freunde in Israel, um deren Sicherheit wir uns sorgen.
Und dazu kommt der massiv angestiegene Antisemitismus, der unser aller Leben beeinflusst. Sogar unsere Kinder müssen sich in der Schule und an der Universität für einen Krieg rechtfertigen, mit dem sie nichts zu tun haben. Jüdinnen und Juden werden auf der Strasse angepöbelt, beschimpft, angespuckt oder angegriffen und sogar fast getötet, nur weil sie Jüdinnen und Juden sind und man sie für die Situation in Gaza verantwortlich macht. Das ist inakzeptabel.
Ebenfalls schlimm sind die zahlreichen Sympathiekundgebungen für die Täter und die fehlende Bereitschaft, die Terroranschläge zu verurteilen. Dies erschwert den Dialog ungemein und macht ihn zuweilen unmöglich.
Wir haben Ihnen versichert, die gestiegene Anzahl antisemitischer Vorfälle in der Schweiz zu bekämpfen. Dennoch waren wir mit einer Welle des Antisemitismus konfrontiert, die viele von uns in ihrem Leben noch nie in diesem Ausmass erlebt haben.
Zu viele Jüdinnen und Juden spüren das täglich, auf unseren Strassen und Plätzen, in unseren Schulen und Universitäten, an kulturellen und sportlichen Veranstaltungen und vor allem, in den Köpfen der Menschen. Es ist naheliegend, dass die Darstellung Israels in vielen hiesigen Medien zu dieser Situation beigetragen hat.
Am 2. Juni hat die Delegiertenversammlung des SIG hier in Bern eine Resolution verabschiedet, in der die Schweizer Jüdinnen und Juden ihre uneingeschränkte Solidarität für die Bevölkerung des Staates Israel zum Ausdruck bringen. Darin heisst es ferner, dass das Existenzrecht des Staates Israel unverhandelbar ist und wir das Leid der Zivilbevölkerung bedauern. Ausdrücklich wird auch das Leiden der arabisch-palästinensischer Seite bedauert, wobei die Verantwortung der Hamas für diese Situation klar genannt wird.
In dieser Berner Synagoge und in allen Synagogen der Schweiz wird jeden Schabbat für die Eidgenossenschaft, die jeweilige Stadt und den jeweiligen Kanton sowie für den Staat Israel gebetet, der als erster Spross unserer Erlösung bezeichnet wird. Wir beten für den Frieden und für die Soldaten Israels. Wir beten für das Überleben Israels. Unsere Dankbarkeit gegenüber der Schweiz und ihren Institutionen haben wir kürzlich gemeinsam mit Christen und Muslimen im Rahmen einer Erklärung des Schweizer Rats der Religionen unterstrichen.
Ich hoffe nun inständig und bete dafür, dass wenn ein weiteres Jahr vergangen ist, Frieden in Israel einkehrt sein wird und auch der gesellschaftliche Frieden hier in der Schweiz wiederhergestellt ist. Um letzteres zu erreichen, muss die ganze Gesellschaft ihren Beitrag dazu leisten. Der erste und wichtigste Schritt dabei ist ein respektvolles Umgehen miteinander, damit Hass, Hetze und Pauschalisierungen von einem friedvollen Zusammenleben abgelöst werden.
Wir sind nicht abgestumpft und fühlen immer noch mit. Wir trauern immer noch.
Und natürlich machen wir uns noch Sorgen um Israel, um uns Schweizer Jüdinnen und Juden, um Jüdinnen und Juden in der Welt und um die weltweiten Entwicklungen.
In diesem Sinne wünsche ich mir von Herzen Frieden für Israel und die ganze Welt. An den Gottesdiensten betone ich die letzte Zeile des Kaddischs
Osse Shalom Bimromav, Der Frieden stiftet in seinen Himmelshöhen
besonders stark und bin zuversichtlich, dass sich - beEsrat Haschem - alles zum Guten wendet.
Persönlich will ich – mit Ihnen zusammen – alles unternehmen um diese widrige Lage und den Sturm, in dem wir uns seit Monaten befinden, zu überwinden.
Wir werden im Tanach aufgefordert, stark zu sein. Lassen wir Stärke und Zuversicht unsere Handlungen leiten und pflegen wir unsere Einheit und die aller Menschen.
Am Israel chai!
Es lebe das jüdische Volk!