In den USA hat das Möbelhaus mit dem Elch einmal mit einem Slogan geworben, der geschickt einen Grundton des amerikanischen Selbstverständnisses aufnahm: »It’s a great country – somebody has to furnish it!« (Es ist ein großartiges Land – jemand muss es auch möblieren.)
Vor 100 Jahren hätte man einen abgewandelten Slogan benutzen können: Jemand muss es auch bevölkern. Und tatsächlich haben sich damals zahllose Menschen auf den Weg über das Meer gemacht, um im gelobten Land der Neuzeit ein besseres Leben zu suchen. Immerhin zwei Millionen haben dafür den Weg über Antwerpen gewählt und haben sich dort auf Dampfern der »Red Star Line« (1873–1934) eingeschifft. Schätzungsweise die Hälfte davon waren Juden, zumeist aus Osteuropa.
In den heute noch erhaltenen damaligen Abfertigungsgebäuden am Antwerpener Rijnkaai wurde vergangene Woche ein neues Emigrationsmuseum eröffnet: »Red Star Line – People on the move«, was sich frei übersetzen lässt mit »Red Star Line – Aufbruch in die Ferne«.
Enge Dieser Aufbruch war für die meisten von ihnen alles andere als glanzvoll. Wenige reisten in Kabinen und dinierten mit dem Kapitän. Die allermeisten waren eingepfercht unter Deck in der dritten Klasse. Sie hatten schon eine Gesundheitsuntersuchung über sich ergehen lassen, und ihr Gepäck war desinfiziert worden, bevor es an Bord gebracht werden durfte.
In den frühen Jahren wurde die Gesundheitsuntersuchung noch im Freien durchgeführt, was beim notorischen belgischen Regen schon im Sommer nicht nur erfrischend gewesen sein muss, im Winter aber sicherlich eine der vielen Zumutungen war, denen sich Auswanderer aussetzen mussten. Erst nach Jahren baute die Reederei die Abfertigungsgebäude, ohne die das heutige Museum gar nicht existieren würde.
Einstein Die Elite hatte es da natürlich besser und wurde an Bord entsprechend begrüßt und behandelt. Auch Albert Einstein, dessen Berühmtheit ihm diverse Einladungen in alle Welt bescherte, benutzte für die Passage nach Amerika gerne die Red Star Line, und der Kapitän höchstselbst ließ es sich nicht nehmen, sich neben dem Jahrhundertgenie ablichten zu lassen – das Foto ist heute Teil der Sammlung.
Es war auf der Rückfahrt von einer solchen Reise, dass Einstein die Nachricht von der Machtergreifung Hitlers erhielt und von der Beschlagnahme seines Vermögens in Deutschland. Er blieb daraufhin bei seiner Ankunft gleich in Belgien, wo er familiäre Verbindungen und zahlreiche Freunde hatte – einschließlich der Königin –, und beschloss wenige Monate später, endgültig einem Ruf nach Amerika zu folgen. Es war auf einem Briefbogen der Red Star Line, dass er sein Kündigungsschreiben an die Preußische Akademie der Wissenschaften verfasste.
Nicht ganz so vornehm ging es zu, als ein Junge mit Namen Israel Isidore »Izzi« Baline mit seinen Eltern vor den Pogromen in seinem Heimatdorf in Weißrussland floh und sich in die Neue Welt aufmachte. Dort musste er zunächst als Zeitungsjunge zum Familienunterhalt beitragen, bevor er unter dem Namen Irving Berlin zumindest nach Ansicht der Amerikaner einen wichtigen Beitrag zur menschlichen Kulturgeschichte leistete.
Fest steht jedenfalls, dass ohne ihn der Sänger Bing Cosby den Song »White Christmas« nicht zur weltumspannenden Schnulze hätte machen können. Irving Berlin seinerseits hätte als Izzi Baline womöglich in seinem Heimatdorf, so er die Pogrome denn überlebt hätte, das Lied zwar so oder ähnlich komponieren können – ein Welthit wäre es auf Russisch aber wahrscheinlich nicht geworden. Und den Übergang zwischen den zwei Welten besorgte eben ein Schiff der Red Star Line.
Idee In Antwerpen hat man erst im Jahr 2000 erkannt, welches Juwel man in Form der erhalten gebliebenen Abfertigungsgebäude eigentlich besaß. Damals begann man, die Bauten unter Denkmalschutz zu stellen. Es sollten dann noch 13 Jahre vergehen, bis das Museum seine heutige Gestalt fand. Für eine völlig neue Museumsidee ist das womöglich gar keine lange Zeitspanne. Die Geduld einer Handvoll Idealisten, die diese Idee verfochten, dürfte es dennoch auf eine ziemlich harte Probe gestellt haben.
Einmal entschieden, wurden allerdings Nägel mit Köpfen gemacht. So vertraute man dem renommierten amerikanischen Architektenbüro »Beyer Blinder Belle Architects and Planners« den Auftrag an, die Gebäude zu restaurieren und zu einem Museum umzubauen. Dieses Büro hatte auch schon das Ellis Island Immigration Museum renoviert – und so kam es, dass der Erhalt der Erinnerung auf der einen wie auf der anderen Seite des Atlantiks architektonisch in derselben Hand lag.
In Antwerpen kam auf diese Weise zu den ursprünglichen Gebäuden ein modern gestalteter Aussichtsturm dazu, in dem man mit nur wenig Fantasie das Symbol eines Schiffsschornsteins erblicken kann, der über die Dächer hinausragt – ähnlich dem, der den damaligen Auswanderern bei der Ankunft als das Vorzeichen ihrer Reise in eine bessere Zukunft erschienen sein muss.
Zusammenhang Das Museum in seiner heutigen Form stellt das Phänomen der millionenfachen Wanderungsbewegung von Menschen aus Europa in die neue Welt in einen größeren Zusammenhang. Nicht erst, seit Abraham aus Ur in Chaldäa aufbrach, um in Kanaan eine neue Heimat zu finden, gibt es Migranten. Und die Kriegs- und Armutsmigranten der heutigen Zeit werden sicherlich nicht die letzte Form der Migration in der Geschichte der Menschheit sein. Darum stellt das Museum in einem eigenen Raum auf einer Zeitachse von 60.000 Jahren die Geschichte der Wanderungsbewegungen dar. Anhand von 20 persönlichen Erzählungen wird dabei die Geschichte der Menschheit in Beziehung gesetzt zur Geschichte der Migration.
Es wird gezeigt, wie sich Menschen durch die Zeiten hindurch in die Fremde aufmachten auf der Suche nach Jagdgründen oder fruchtbarem Land, nach Abenteuern oder schlicht nach einem Flecken Erde, wo sie frei von Angst vor Verfolgung und Tod sein konnten. Es war jedes Mal der Aufbruch in eine ungewisse Zukunft, und oftmals erlebten diejenigen, die sich aufgemacht hatten, die Verwirklichung ihres Traums nicht mehr. Die Strapazen der Auswanderung, die Gefahren, aber auch die Verheißung und der mögliche Erfolg, sie werden alle multimedial und mit einer Datenbank, zugleich aber auch emotional erfahrbar vermittelt.
Bremerhaven Das neue Museum steht damit in einer Reihe mit dem Deutschen Auswandererhaus in Bremerhaven – und zweifellos in einem gewissen Konkurrenzverhältnis, das sich schon aus den vielen Parallelen ergibt, die zwischen den zwei Museen bestehen. Auch in Bremerhaven schifften sich Auswanderer ein, und sogar noch viel mehr als in Antwerpen. Aber was das Museum in Antwerpen auszeichnet, ist der Originalschauplatz.
Das hat der ehemalige US-Botschafter in Belgien Sam Fox plastisch dargestellt, der selbst von Passagieren der Red Star Line abstammt. Bei einer Besichtigung des Museums erzählte er, wie seine Mutter im Februar 1921 von Antwerpen nach Boston übergesetzt hatte, um ihrem Ehemann zu folgen, der schon sieben Jahre früher seine Heimat in Kiew verlassen hatte.
Fox erzählte, wie sein Vater auf Ellis Island eine wundersame Wandlung durchmachte. Er sei als der kleine und verachtete Jude Michael Fuks angekommen und habe die Insel verlassen als Max Fox, ein freier Mann in einem Land, das erklärt hatte, alle Menschen seien gleich. Dafür habe er die Vereinigten Staaten zeitlebens glühend verehrt.
Botschafter Fox: »Und jetzt bin ich als Botschafter der Vereinigten Staaten hier in Belgien. Meine Eltern würden bestimmt staunen. In diesem Museum werde ich – und das ist für mich etwas Besonderes – buchstäblich in die Fußstapfen meiner Mutter treten können, die damals durch diese Gebäude hindurchgegangen ist.«
Das Museum sucht nach weiteren Fotos oder anderen Erinnerungsstücken von damaligen Passagieren. Wer sie der Öffentlichkeit zugänglich machen möchte, kann direkt mit dem Museum Kontakt aufnehmen.
E-Mail: redstarline@stad.antwerpen.be
oder Telefon: 0032-3-206 03 50
www.redstarline.be