Es war einmal ein Mädchen, das mit seinen Eltern und einem jüngeren Bruder in Amsterdam lebte. Sie war das freundlichste Kind der Welt. Rita van der Weg, so hieß das Mädchen, machte nie Ärger. All die Aufgaben, die Kinder normalerweise nicht mögen, erledigte sie ohne Murren. Sie brachte ihren kleinen Bruder zur Schule, sie gab keine Widerworte, die Pubertät schien sie zu überspringen. Sie eckte nirgends an und fiel nicht auf. Auf Fotos sah sie fröhlich aus, ein aufgewecktes, hübsches Mädchen mit sympathischem Lächeln.
Niemand merkte, dass Rita immer, wenn es im Geschichtsunterricht um den Zweiten Weltkrieg ging, auf die Toilette musste. Bei diesem Thema bekam sie Bauchschmerzen. Instinktiv und konsequent wich Rita van der Weg allem aus, was mit dem Krieg zu tun hatte. Und mit Juden.
name An Jüdischsein konnte man sterben, das wusste sie seit ihrem sechsten Geburtstag. An diesem Tag, dem 27. Mai 1948, sollte sie das erste Mal in die Grundschule gehen. Ihr Vater hatte sie am Abend vorher zu sich gerufen. Er habe ihr etwas zu erzählen, hatte er gesagt. »Du musst wissen, dass ich nicht dein Vater bin, und Mama ist nicht deine Mutter. Und dass du nicht Rita van der Weg heißt. Du hast einen anderen Namen: Rozette Kats.«
Zu ihrem Schulanfang erfuhr sie, dass sie nicht Rita van der Weg heißt, sondern Rozette Kats.
Er sagte, dass ein Krieg hinter ihnen läge, eine schlimme Zeit, in der Menschen gejagt worden seien. Diese Menschen seien Juden gewesen, wie ihre Eltern. Weil diese nicht wollten, dass ihr etwas geschehe, hätten sie sie bei ihm und seiner Frau in Sicherheit gebracht, als sie acht Monate alt war. »Und das ist gut, denn sie sind jetzt nicht mehr da. Aber du musst keine Angst haben. Du bleibst immer bei uns, wir lieben dich, und morgen feiern wir. Dann gehst du in die Schule, und wir reden nicht mehr darüber.«
Seit diesem Tag war Rita van der Weg brav, angepasst und zutiefst verunsichert. Würden ihre neuen Eltern sie vielleicht doch wegschicken, wenn sie launisch wäre oder nicht tun würde, was sie ihr auftrugen? Was, wenn man in der Schule dahinterkäme, dass sie eigentlich jemand anderes war? Das »Wir reden nicht mehr darüber« ihres Vaters fasste sie als Verbot auf. Rita wurde eine Meisterin des Verdrängens und hielt alles von sich fern, womit sie nicht umgehen konnte: Krieg, Familie, Juden. Sie stopfte es in einen imaginären Eimer, in den, wie sich herausstellen würde, sehr viel hineinpasste.
VERRAT Still war es nicht nur in Rita van der Weg. Das Schweigen um sie herum kam hinzu. Die niederländische Gesellschaft machte kurz nach dem Zweiten Weltkrieg einen weiten Bogen um das Thema Holocaust. Rund drei Viertel der Juden des Landes waren von den Nazis ermordet worden, mehr als überall sonst im besetzten Westeuropa. Kollaboration und Verrat waren weit verbreitet. Die Überlebenden, die aus den Lagern zurückkehrten, wurden ohne großes Interesse und ohne Empathie empfangen – auf der Agenda stand nach der Befreiung des übel zugerichteten Landes der Wiederaufbau.
Das einzige Fenster in die eigene Geschichte war für Rita van der Weg ihr Onkel, Erwin Eliasar, der Bruder ihrer Mutter. Er lebte in Vaals an der deutschen Grenze, wenige Kilometer vor Aachen, und war mit einer nichtjüdischen Frau verheiratet. Was Rita nicht wusste: Auf einer Odyssee quer durch die Niederlande hatten ihre Eltern, Emanuel Louis Kats und Henderina Eliasar, auch dort versucht, ein Versteck für sich und ihren Säugling zu finden. Doch als den Nachbarn auffiel, dass Windeln im Garten trockneten, mussten sie rasch weiterziehen.
Erwin Eliasar war der einzige von Ritas Verwandten, der den Holocaust überlebt hatte.
Erwin Eliasar war der einzige von Ritas Verwandten, der den Holocaust überlebt hatte. Ihre Eltern, so erfuhr sie später als Erwachsene, waren ins Durchgangslager Westerbork gebracht worden und hatten noch einen kleinen Sohn bekommen, Robert. Gemeinsam mit ihm wurden sie nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.
ONKEL Nach dem Krieg entschied ein Richter, dass Rita van der Weg bei ihren Pflegeeltern bleiben soll. Der Onkel, der in Vaals einen Laden betrieb, wurde ihr Vormund. Jedes Jahr verbrachte sie in den Ferien zwei Wochen bei ihm. Aber auch in seinem Haus gab es nichts Jüdisches.
Als Rita zwölf oder 13 Jahre alt war, nahm sie all ihren Mut zusammen: »Du bist doch der Bruder meiner Mutter«, sagte sie zu ihrem Onkel und fragte: »Bin ich ihr ähnlich?« Doch sie erhielt keine Antwort – plötzlich hatte er etwas zu erledigen.
In den darauffolgenden Jahren wiederholte sich diese Szene. Rita schloss inzwischen die Schule ab, mal war sie Überfliegerin, mal blieb sie sitzen. Um sie studieren zu lassen, fehlte den Pflegeeltern das Geld. So arbeitete sie in einer Werbeagentur und machte eine Ausbildung zur Sekretärin.
pflegemutter Dass ihre Pflegemutter ihr zum 18. Geburtstag zwei goldene Ringe ihrer leiblichen Eltern und die zerbeulte Uhr der Mutter schenkte, irritierte Rita. Sie wusste nicht, was sie damit tun sollte, konnte aber der Pflegemutter entlocken, dass ein Mann, der sich als Walter vorstellte und sagte, er sei aus Westerbork entkommen, während des Kriegs die beiden Ringe und die Uhr zu ihr gebracht hatte. Später erfuhr sie, dass ihre Mutter einen Bruder namens Walter hatte, der im Widerstand gewesen war. Rita ließ einen der Ringe zu einem Magen David schmelzen und die Uhr reparieren, wusste aber weiter nichts damit anzufangen.
Als sie etwa 20 Jahre alt war, begegnete ihr beim Essen in der Kantine ein Mann. Er war Anfang 30, hieß Fred und war Jude. Wie sie hatte auch er fast als Einziger in seiner Familie überlebt. Zum ersten Mal traute sich Rita, ihre Geschichte zu erzählen und dass sie eigentlich anders hieß. Die beiden verliebten sich ineinander.
Am 27. Januar spricht Rozette Kats im Deutschen Bundestag.
»Wir sind füreinander übrig geblieben«, ging es ihr durch den Kopf. Diese fast romantisch anmutende Vorstellung beflügelte die Beziehung. Nach drei Jahren heirateten Rita und Fred. 1968 bekamen sie einen Sohn, 1970 eine Tochter. Ihr Mann aber war durch das, was seiner Familie angetan worden war, derart traumatisiert, dass die Beziehung unmöglich wurde. So verließ Rita ihn mit 33 Jahren wieder, die Ehe wurde geschieden, und sie zog die Kinder allein groß.
vergangenheit Die Fragen nach der Vergangenheit drängten jedoch immer stärker an die Oberfläche. Mit Anfang 40 besuchte sie den inzwischen schwerkranken Onkel, um einen letzten Versuch zu starten. Erwin Eliasar überreichte ihr ein Hochzeitsfoto ihrer Eltern. Das dazugehörige Album, auf das er »Prähistorie« geschrieben hatte, steckte er zurück in eine Tasche. Mehr bekam sie auch an diesem Tag nicht aus ihm heraus. Doch das Wissen um die Tasche gab ihr Hoffnung, bald Antwort auf ihre Fragen zu finden.
Wenig später starb der Onkel. Seine Frau zog danach mehrfach um, sodass einige Zeit verging, bis Rita sie in einem Seniorenheim aufsuchen konnte. Doch als es endlich so weit war und sie nach der Tasche fragte, war es, als zöge man ihr den Boden unter den Füßen weg: »Kind, ich musste all unsere Möbel zurücklassen, und für die Tasche hat sich nie jemand interessiert«, entgegnete ihr die Tante. Als Rita van der Weg nach Hause kam, erlitt sie einen Zusammenbruch. »Endlich«, wird sie später sagen. Sie begab sich in Therapie, führte fünf Jahre lang Gespräche, um sich selbst zu ergründen.
1992 nahm sie in Amsterdam an einer Konferenz untergetauchter Kinder teil. So wie sie die Therapie inzwischen als ihre Rettung sieht, wurde die Konferenz so etwas wie ihr Coming-out. »Ich kam aus dem Versteck. Und wurde nach mehr als der Hälfte meines Lebens zu Rozette Kats. Ich lebte, statt gelebt zu werden«, blickt sie heute zurück.
ZEITZEUGIN In jener Zeit begann sie, ehemalige Konzentrationslager zu besuchen. Sie engagierte sich in einem Netzwerk jüdischer Kriegskinder sowie der Stiftung Sobibor und begleitete den prominenten Sobibor-Überlebenden Jules Schelvis, der als Nebenkläger im Denjanjuk-Prozess auftrat.
Sie begab sich in Therapie, führte fünf Jahre lang Gespräche, um sich selbst zu ergründen.
Über die Großtante ihres ehemaligen Mannes, die im niederländischen Widerstand aktiv gewesen war und die sie ebenfalls begleitete, knüpfte Rozette Kats Kontakte nach Deutschland und begann, als Zeitzeugin in Schulen aufzutreten.
Später tat sie dies auch in den Niederlanden. »Die Geschichte einer Leere« nannte sie ihren Vortrag, der sich im Laufe der Jahre veränderte: Nachdem Rita van der Weg wieder zu Rozette Kats geworden war, spürte sie, dass eine Last von ihren Schultern gefallen war. Mit viel Energie ging sie die Suche nach ihren Wurzeln an, dass Besucher ihrer Vorträge davon fast persönlich Zeugen wurden. Heute sagt sie: »Es waren Tropenjahre. Ich befand mich im Aufhol-Modus.«
tasche Fast zehn Jahre nach dem Tod ihres Onkels traf Rozette auf einem Fest dessen jüngsten Sohn. Der erzählte ihr, dass er die besagte Tasche an sich genommen habe, was seine Mutter schlicht vergessen hatte. Allein traue er sich aber nicht, hineinzuschauen. Also öffneten sie die Tasche gemeinsam: Fotos, Dokumente, Erinnerungsstücke, alles breiteten sie auf Rozette Kats’ Wohnzimmertisch aus, darunter auch das Manuskript eines langen Rundgesangs, den der Onkel zur Hochzeit ihrer Eltern auf die Melodien bekannter Lieder geschrieben hatte.
Die Leerstellen, die ihre Geschichte waren, hat Rozette Kats inzwischen gefüllt. Jedes Mal aber, wenn sie ein Tischtuch wechselt und der Wohnzimmertisch kurz unbedeckt vor ihr steht, denkt sie an jenen Moment. »Auf diesem Tisch wurde meine Familie ausgebreitet. So ergreifend war das, ich kann es nicht beschreiben!«