Hans Morgenstern ist ein groß gewachsener weißhaariger Herr, seine 81 Jahre sieht man ihm kaum an. Er geht noch immer sehr gerne spazieren, allerdings behindert ihn seine künstliche Hüfte, die ihn schnell ermüden lässt.
Wer sich oberflächlich ein wenig mit Hans Morgensterns Leben befasst, könnte vermuten, die künstliche Hüfte sei vielleicht das fatale Ergebnis von Verfolgung und Drangsalierung. Denn der 1937 Geborene verließ nach dem »Anschluss« Österreichs zusammen mit seinen Eltern wie unzählige andere Juden die feindlich gewordene Heimat in Richtung Palästina.
Doch eine solche Vermutung ist falsch, die künstliche Hüfte ist vielmehr Folge eines Sturzes im Jahr 2010. Und wer sich mit Hans Morgenstern unterhält, hört zwar einiges über Flucht und Terror, doch betraf dies nur Verwandte und Freunde von Hans Morgenstern, denn am eigenen Leib musste er dies zum Glück nicht erleben.
PALÄSTINA Als 1939 aus Österreich die »Ostmark« wird, ist Hans ein Jahr alt, er ist das einzige Kind des Rechtsanwalts Egon Morgenstern und dessen Ehefrau. Noch ahnt niemand, dass Hans Morgenstern das letzte in den Geburtsurkunden der Jüdischen Kultusgemeinde St. Pölten eingetragene Kind sein wird.
St. Pölten ist damals eine niederösterreichische Provinzstadt, eine halbe Zugstunde von Wien entfernt. Vor dem »Anschluss« hat die Gemeinde 1000 Mitglieder und betet in einer wunderschönen, kurz vor dem Ersten Weltkrieg errichteten Synagoge.
Wegen der Hitze kehrte die Familie aus Israel nach Österreich zurück.
Weil Egon Morgenstern Zionist ist, lautet das Ziel der Familie: Palästina. Und tatsächlich schafft sie es 1939 dorthin. In Bat Jam besucht der Junge Kindergarten und Schule. Sein Vater findet nach langem Suchen eine Anstellung in einer Bibliothek. Doch weil er im Ersten Weltkrieg verwundet wurde, leidet er unter der Hitze und hat Mühe, in Palästina Fuß zu fassen. »Deshalb entschieden sich meine Eltern 1947, also noch vor der Staatsgründung, wieder zurück nach Österreich zu gehen. Der Geschichte zum Trotz sozusagen«, erzählt Hans Morgenstern bei einem Treffen in einem der Kaffeehäuser von St. Pölten, die er fast täglich besucht.
Dass sich die Familie wieder in der Stadt niederließ, in der sie schon vor der Schoa gelebt hatte, klinge heute für manche Ohren mehr als seltsam, sei aber irgendwie logisch gewesen, sagt Morgenstern. Von Drangsalierungen habe er als Baby natürlich ohnehin nichts mitbekommen, doch seien solche Erlebnisse auch bei seinen Eltern kaum je ein Thema gewesen.
Juden in St. Pölten sind nach dem Holocaust eine absolute Randerscheinung. Außer den Morgensterns leben nur ganz wenige Rückkehrer in der Stadt. Zu einer Neugründung der Kultusgemeinde kommt es – anders als zum Beispiel in der Kurstadt Baden bei Wien – mangels Interesse nicht. Auch später nicht, als St. Pölten niederösterreichische Landeshauptstadt, politisch damit aufgewertet wird und eine jüdische Gemeinde am Ort sicher für die Republik einen gewissen Effekt hätte.
Doch nicht alles verläuft ganz ohne Brüche, als die Morgensterns in die Stadt zurückkehren. Die Familie muss in ein Hotel ziehen, da ihre frühere Wohnung von Bomben zerstört wurde. Eine Abfindung für das Haus erhält sie erst 1956, da es als »deutsches Eigentum« von der Sowjetarmee beschlagnahmt und erst nach dem Staatsvertrag von 1955 wieder freigegeben wurde.
VERANTWORTUNG Auch wenn es heute keine jüdische Gemeinde mehr in St. Pölten gibt, fühlt sich Hans Morgenstern in einer besonderen Verantwortung: Seit vor einem Jahr sein Cousin Hans Kohn verstorben ist, kann – oder vielmehr muss – er die Bezeichnung »Letzter Jude von St. Pölten« für sich beanspruchen.
Bereits 1985 legte er eine Fotosammlung als Gedenkbuch für die ermordeten St. Pöltener Jüdinnen und Juden an. Und dem Institut für die jüdische Geschichte, das in der ehemaligen Synagoge seinen Sitz hat, steht Morgenstern seit Jahren beratend zur Seite.
Mit dem etwas seltsamen Titel »Letzter Jude von St. Pölten« geht der 81-Jährige eher gleichmütig um. »Es ist nun mal so, da ich leider keine Geschwister und selbst keine Nachkommen habe«, sagt er.
Als Exot empfindet sich Morgenstern in der Stadt keineswegs.
Als Exot empfinde er sich aber nicht, er sei gut integriert und bekannt in der Stadt. Und wie zum Beweis dafür gibt ihm die junge Kellnerin beim Verlassen des Kaffeehauses ein verwundertes: »Ach, Sie gehen schon, Herr Doktor ...!?« mit auf den Weg.
EHRENZEICHEN Dass auf dem Jüdischen Friedhof bereits ein Grabstein für ihn steht, auf dem sein Geburts-, aber noch nicht sein Todesjahr eingraviert ist, sieht der ehemalige Arzt ebenfalls völlig leidenschaftslos: »Ich habe mir das bei einem Freund abgeschaut, der in der gleichen Situation wie ich ist.« Er könne ja ungeachtet dieser Tatsache noch lange leben, sagt er.
Und so pflegt er eine Leidenschaft auch in seinem hohen Alter weiter: Er sammelt Lebensläufe von Juden aus aller Welt. 6400 sind es bereits, und geht es nach ihm, so sollen es noch viel mehr werden.
Für diese Sammlung, aber auch für seine Verdienste um das Gedenken der Stadt St. Pölten erhielt Hans Morgenstern 2018 von der Stadt in einer Feierstunde das »Ehrenzeichen«.
Hans Morgenstern erzählt vor dem Wohnhaus seiner Großmutter, wie sich für ihn die beiden Themen verbinden: »Ich habe es von meiner Jugend an als unglaublich kränkend und ungerecht empfunden, dass Menschen, die derart viel zum Wohl und zur Kultur ihrer Heimatländer beigetragen haben, ausgegrenzt und ermordet wurden.« Mit seiner Sammlung, die die ganze Welt umfasst und 2009 auch als Buch erschien, sagt er zum Abschied noch, wollte er hier bewusst einen Kontrapunkt setzen.