Nach zwei Jahren Pause wegen der Coronapandemie fand am Donnerstagnachmittag an der Gedenkstätte Auschwitz wieder der »March of the Living« statt. Traditionell ziehen bei diesem »Marsch der »Lebenden« am israelischen Holocaust-Gedenktag Jom Haschoa Tausende, vor allem Schülerinnen und Schüler, schweigend oder »Am Israel chai« (Es lebe das Volk Israel) singend vom ehemaligen deutschen Lager Auschwitz zum wenige Kilometer entfernten einstigen Vernichtungslager Birkenau, um der dort ermordeten Insassen sowie den bei den »Todesmärschen« ums Leben gekommenen Menschen zu gedenken. Zugleich soll den zumeist jungen Teilnehmern mit dem Programm Wissen über die Schoa vermittelt werden.
Nachkommen Viele allerdings sind Nachkommen von Überlebenden, die vor allem die Erinnerung an ihre Eltern, Großeltern, Urgroßeltern oder an »Gerechte unter den Völkern«, die ihre Familienmitglieder gerettet haben, wachhalten wollen. Andere Teilnehmer haben in den vergangenen Jahren oder Jahrzehnten Angehörige bei antisemitischen Terroranschlägen verloren - in den USA, in Frankreich oder in Indien.
2020 und 2021 konnten die Märsche wegen der Pandemie nicht in der seit 1988 durchgeführten Weise stattfinden. Doch auch dieses Jahr stand die Veranstaltung unter besonderen Vorzeichen: Menschen, die vor dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine geflüchtet sind, nahmen am »March of the Living« teil.
Arabischen Emirate Angeführt wurde der Marsch von sieben Schoa-Überlebenden aus Großbritannien, für die es womöglich das letzte Mal ist, dass sie in der Lage sind, an dem Marsch teilzunehmen. Sie seien »eine seltene Spezies« geworden, sagte die Überlebende Eve Kugler. Insgesamt kamen über 2000 Juden und Nichtjuden aus über 25 Ländern, darunter Israel, Deutschland, den USA, Großbritannien und Frankreich. Erstmals nahm auch eine Delegation aus den Vereinigten Arabischen Emiraten teil – ein historischer Schritt.
Nachdem zwei Rabbiner zum Start das Schofar geblasen hatten, gingen die Menschen – in blauer und weißer Kleidung oder eingehüllt in israelische Fahnen – die 3,2 Kilometer zum Lager Birkenau. Dort fand eine bewegende Zeremonie statt, in der Nähe des Krematoriums, wo mehr als eine Millionen Juden verbrannt worden waren.
»Dies ist fast die letzte Gelegenheit, gemeinsam mit Überlebenden zu marschieren.«
Phyllis Greenberg Heideman / Shmuel Rosenman, »March of the Living«-Organisation
»In den vergangenen Jahren haben der internationale Marsch der Lebenden und die ganze Welt viele Holocaust-Überlebende verloren«, sagten Phyllis Greenberg Heideman, Präsidentin der »March of the Living«-Organisation, und Shmuel Rosenman, deren Vorsitzender, in einem gemeinsamen Statement. »Dies ist fast die letzte Gelegenheit, gemeinsam mit Überlebenden zu marschieren. Es ist unsere Verantwortung, die Fackel ihrer Erinnerung zu tragen, auch angesichts des tragischen Kriegs in der Ukraine.«
Fackel der Erinnerung Unter den Teilnehmern waren auch der Bürgermeister Jerusalems, Moshe Lion, der polnische Präsident Andrzej Duda, der frühere israelische Oberrabiner Meir Lau, der Kantor Shai Abramon der israelischen Armee sowie der israelische Sänger Harel Skaat. Der israelische Präsident Isaac Herzog hielt per Videoschalte eine Ansprache, der betonte, die Fackel der Erinnerung müsse an die nächste Generation weitergegegeben werden.
Viele der Redner wiesen auf den Krieg in der Ukraine hin. Auch eine Schweigeminute für dessen Opfer wurde abgehalten. Die Jewish Telegraphic Agency (JTA) berichtete über Yefim Podlipsky, einer der ukrainischen Teilnehmer. Der Betreiber eines Reisebüros flüchtete nach der russischen Invasion vom 24. Februar aus seiner Heimatsatdt Winnyzja in der Südwest-Ukraine.
Auch Lila Buzeniuk kommt von dort. Die dreifache Mutter sagte JTA: »Der Krieg hat unsere Familie getrennt und uns gezwungen, unser Heim und unser Land zu verlassen.« Immerhin hätten sie überlebt und Schutz und Zuflucht gefunden in Polen, »unserem Schwesterland«, wie Lila Buzeniuk sagt. »Dank wunderbarer Menschen werden wir leben und uns erinnern – und niemals vergessen.«
»March of the Living«-Vorsitzender Rosenman betonte, es gehe nicht darum Gräueltaten gleichzusetzen. Aber, so Rosenman, »alle Ausdrucksformen des Bösen« müssten bekämpft werden.
Israel Nach dem Marsch in Polen reisen viele der Teilnehmerinnen und Teilnehmer weiter nach Israel, um dort Jom Hasikaron und Jom Haatzmaut zu begehen, den Gedenktag für die gefallenen Soldaten und Terrorismusopfer Israels und den israelischen Unabhängigkeitstag. Diese Reise soll auch die Wiedergeburt des jüdischen Volkes symbolisieren.
Die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST), die bei früheren Märschen auch Busse für Teilnehmer aus Deutschland organisiert hatte, nahm diesmal aufgrund der pandemiebedingten Unsicherheiten in der Planungsphase nicht teil. Stattdessen veranstaltet sie ein Programm in der thüringischen KZ-Gedenkstätte Buchenwald.