Polen

Aktivisten der Erinnerung

Agnieszka Jablonska verfolgt die Spuren jüdischer Geschichte in ihrer Heimatstadt Wrocław. Foto: Jerzy Wypych

In der Retrospektive, sagt Agnieszka Jablonska, könne sie genau benennen, wann sie eine »Erinnerungsaktivistin« wurde. Es war im Frühjahr 2017, sie stand in der Ulica Gwarna in Wrocław, einer unscheinbaren Straße, die vom Hauptbahnhof wegführt. Vor ihr stille Bagger, eine Baustelle für ein neues Hotel.

Agnieszka Jablonska hatte zehn Jahre lang Karriere in Brüssel gemacht, nun war sie zurückgekommen in ihre polnische Heimat, um nach ihren Wurzeln zu suchen. Sie hatte begonnen, Polnische Jüdische Geschichte zu studieren und sich mit der Historie ihrer Stadt zu beschäftigen, als diese noch Breslau hieß. Obwohl sie die Straße schon oft hinuntergelaufen war, erfuhr sie erst jetzt, was unter ihr ruhte: Die schweren Schaufeln der Bagger waren auf etwas gestoßen, in der Baugrube hockten nun Archäologen. »Ich erinnere mich an ihre feinen Bürsten. Und an einen Schädel«, sagt Jablonska.

In Polen wird Erinnerungsarbeit oft ehrenamtlich organisiert.

1761, als die Ulica Gwarna noch keinen Namen trug und außerhalb der Stadtgrenze lag, kaufte die Breslauer jüdische Gemeinde hier zwischen Feldern und Gärten ein Grundstück. Fast 100 Jahre lang beerdigte sie dort ihre Mitglieder, mehr als 4000 Menschen. Doch dann wuchs die Stadt gen Süden, der neue Bahnhof wurde gebaut, eine Zufahrtsstraße durchschnitt den Friedhof, die jüdische Gemeinde sah sich gezwungen, Teile des Grundstücks zu verkaufen, Gräber umzubetten. Im Zweiten Weltkrieg wurde der Friedhof schließlich vollständig zerstört, im kommunistischen Polen wurde darauf ein Sportzentrum errichtet.

Foto: Jerzy Wypych

Nur wer Bescheid weiß, erkennt heute die divergent zur Straße verlaufenden Linien im Boden, die auf den einstigen Friedhof hindeuten. Das Hotel, für das 2017 hier die Tiefgarage ausgehoben wurde, ragt inzwischen acht Stockwerke in den Himmel. Die gefundenen Knochen wurden auf einem anderen Friedhof begraben. »Von den Archäologen erfuhren wir, dass unter dem Rest des Areals wohl noch weitere menschliche Überreste liegen«, sagt Jablonska.

Vergessene Geschichte sichtbar machen

Der vergessene Friedhof hat sie nicht losgelassen. Zwei Jahre später gründete Jablonska gemeinsam mit dem Wroclawer Architekten Wojtek Chrzanowski und den Söhnen einer jüdischen Familie aus Breslau, Stephen und Donald Falk, eine Stiftung, die »Urban Memory Foundation«. Sie haben dem Bürgermeister geschrieben, die Berliner Künstlerin Anna Schapiro eingeladen, den Ort zu markieren, und ein Schild aufgestellt, das die Geschichte des Gwarna-Friedhofs zum ersten Mal für die Öffentlichkeit sichtbar macht.

Nicht nur in Wrocław, in ganz Polen setzen sich seit einigen Jahren immer mehr Menschen dafür ein, dass die Geschichte der über drei Millionen Juden, die vor der Schoa auf diesem Gebiet lebten, nicht vergessen wird.

»Die Politik der PiS hat viele wachgerüttelt«

Agnieszka Jablonska, Erinnerungsaktivistin

»Die Politik der PiS hat viele wachgerüttelt«, sagt Jablonska. 2018 hatte eine Gesetzesnovelle der damaligen, rechtsnationalen Regierungspartei bis nach Israel Schlagzeilen gemacht: Ab dann konnte jeder mit bis zu drei Jahren Haft bestraft werden, der Polen faktenwidrig die Verantwortung für Verbrechen zuschrieb, die durch das Dritte Reich begangen wurden. Die Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem gab zu bedenken, das Gesetz könnte genutzt werden, um die historische Wahrheit zu verschleiern.

Hetzkampagne PiS-treuer Medien

Ein Jahr später wurden polnische Historiker von Nationalisten auf einer Konferenz antisemitisch beschimpft. Gegen das Warschauer Zentrum für Holocaust-Forschung entspann sich eine regelrechte Hetzkampagne PiS-treuer Medien. Die politischen Verhältnisse der Gegenwart hätten viele dazu bewogen, sich für die Vergangenheit zu engagieren, sagt Jablonska. Und dieser Aktivismus halte auch nach dem Regierungswechsel von 2023 an.

In Polen, sagt Jablonska, werde die Erinnerungsarbeit häufig von Menschen gestemmt, die dafür nicht bezahlt würden, ihre eigenen Organisationen gründen, Mahnmale aufstellen, in den Archiven ihrer Dörfer wühlen, vergessene Friedhöfe und Massengräber markieren. Und sie komme aus einer Generation, die sich von Komplexen und Tabus des Kommunismus befreit habe.

Die Aktivisten weigern sich, das Schweigen, die Verdrängung, das Vergessen hinzunehmen.

Jablonskas Stiftung hat vergangenes Jahr eine erste Studie über die neue Bewegung unterstützt. Dafür wurden 20 Erinnerungsaktivisten interviewt. Was sie antreibe, sei ähnlich, sagt Jablonska: »Sie weigern sich, das Schweigen, die Verdrängung, das Vergessen hinzunehmen.« Etwa die Hälfte der polnischen Erinnerungsaktivisten habe jüdische Wurzeln, schätzt Jablonska. Auch ihr Großvater stammt aus einer jüdischen Familie, aus einer kleinen Stadt nahe dem galizischen Lemberg, heute Lwiw in der Ukraine.

Als die Nazis 1933 die Macht ergriffen, gehörte Breslau zum »Dritten Reich«. Etwa die Hälfte der 20.000 jüdischen Bewohner floh in den Folgejahren ins Exil, diejenigen, die blieben, wurden deportiert und ermordet. Nach der Eroberung durch die Sowjetarmee wurde auch die deutsche Bevölkerung vertrieben, ab 1945 zogen vor allem Menschen aus Zentral- und Ostpolen in die zerstörte Stadt an der Oder.

Eine seltene Möglichkeit, jüdische Identität zu ergründen

So stammen die meisten der 300 Juden, die heute in Wrocław leben, aus anderen Gebieten. Es ist eine lose, kleine Gemeinschaft, einen Rabbiner gibt es nicht mehr. Für Menschen mit jüdischer Familiengeschichte ist der Erinnerungsaktivismus auch eine Möglichkeit, ihre Identität zu ergründen, sagt Jablonska.

Polnische Aktivisten und Nachfahren jüdischer Breslauer treffen sich im Haus OP ENHEIM in Wrocław.Foto: Jerzy Wypych

In den letzten Jahren hat Jablonska etliche Nachfahren jüdischer Familien aus Breslau kontaktiert, in den USA, in Schottland, Belgien, Israel, Deutschland.

Die »Ex-Breslauers«, wie sich die lose Gruppe heute nennt, haben mithilfe der polnischen Aktivisten aneinandergefügt, was sie noch von ihren Großeltern erzählt bekamen, Verwandtschaften und Verbindungen ihrer Familien rekonstruiert. Manche reisten nach Wrocław, dann suchten sie gemeinsam mit Jablonska die Häuser, in denen ihre Familien einst wohnten.

So entstand vor ihren inneren Augen eine Karte, eine jüdische Nachbarschaft, eine Einheitsgemeinde mit inneren Konflikten, mit berühmten orthodoxen und liberalen Rabbinern, Schulen und Synagogen, hebräischem Buchdruck und einer koscheren Molkerei, angesehenen Geschäftsleuten und armen Schluckern.

»Im Gegensatz zu vielen anderen erzählte unsere Mutter mit Liebe von ihrer Kindheit in Breslau. Wir wuchsen mit diesen Geschichten auf, wie andere mit Märchen«, sagt Stephen Falk, der seit über 40 Jahren seine und andere Breslauer Familiengeschichten erforscht. Falk kam das erste Mal 1996 aus den USA nach Wrocław. Mittlerweile ist er fast jedes Jahr hier. »Ich setze Teile eines riesigen Puzzles zusammen«, sagt Falk. Gemeinsam mit seinem Bruder hat er etliche Archive von New York bis Warschau durchforstet. Sie pflegen ein Dokument mit über 112.000 Namen, etwa 20.000 davon jüdische Breslauer.

Wohl keiner kennt die Stammbäume der Breslauer Juden vor dem Krieg so gut wie die Brüder Donald und Stephen FalkFoto: Jerzy Wypych

2022 trafen sich Agnieszka Jablonska, die polnische Kuratorin Malgorzata Stolarska-Fronia und die Brüder Falk in Wrocław. Sie wollten die wenigen greifbaren Dinge, die aus dieser alten Breslauer Welt noch übrig waren, in die Stadt zurückbringen: Gegenstände, die die Ex-Breslauer von ihren Eltern und Großeltern geerbt hatten, die auf Dachböden und in Kellern in Israel, den USA, Belgien oder England schlummerten. Zwei Jahre überzeugten sie Menschen, die fragilen Erinnerungsstücke gut verpackt nach Wrocław zu schicken. Putting things back heißt die Ausstellung, die bis zum 22. September im Haus der Stiftung »OP ENHEIM« besichtigt werden kann.

Die Gegenstände erzählen nicht nur von einem stolzen und kulturell erfüllten jüdischen Leben in Breslau, sondern auch von dessen abruptem Zerreißen, der Zerstörung und Zerstreuung. So wie der Teppich, der im dritten Raum der Ausstellung in sattem Blau von der Wand strahlt. »Dieser Teppich hing im Wohnzimmer meiner Großtante in Israel«, erzählt Daniel Ljunggren aus Schweden, ein junger Mann mit runder Brille, der zur Ausstellungseröffnung angereist ist. »Ich wusste lange nicht, was für eine bewegte Geschichte er hinter sich hatte.«

1936 fabrizierte Bertha Hadda, die Urgroßmutter von Daniel Ljunggren, diesen Teppich mit ihren Schülern im Werkunterricht an der jüdischen Schule von Breslau. Als die Nazis die Schule 1941 schlossen, rettete Bertha den Wandteppich aus dem Foyer und versteckte ihn gemeinsam mit ein paar Kleidern bei ihrem Bruder Fritz, der in einem Dorf außerhalb von Breslau lebte. Bertha Hadda war zum Judentum konvertiert, ihr Bruder nicht jüdisch. Sie hoffte wohl, dass so ihre Habseligkeiten überleben würden.

Bertha und ihr Mann Albert wurden in getrennten Arbeitslagern interniert und trafen sich nach dem Krieg in Breslau wieder. Sie beschlossen, die 35 Kilometer zu Berthas Bruder zu laufen. Als sie in das Dorf kamen, bemerkte Bertha eine Frau, die ihr Kleid trug. Die Frau erzählte ihnen, dass Berthas Bruder und seine Familie beim Einmarsch der sowjetischen Truppen Suizid begangen hatten. Das Haus wurde geplündert und die Beute im Dorf verteilt.

Bertha und Albert fanden bei den Dorfbewohnern auch den Wandteppich, den sie 1948 schließlich mit nach Israel nahmen. Dort sah Daniel Ljunggren den blauen Teppich als Kind.

1936 nähten die Schüler der jüdischen Schule in Breslau die Tiere der Arche Noah mit ihrer Lehrerin Bertha Hadda auf diesen Wandteppich. Foto: Jerzy Wypych

Die Schule, in deren Foyer der Teppich bis 1941 hing, gibt es heute noch. Sie steht als einziges erhaltenes Backsteingebäude inmitten von Plattenbauten im Süden von Wrocław. Noch heute ist das Foyer gespickt mit Bastelarbeiten der Schüler. Man entdeckt biblische Szenen und hebräische Buchstaben, denn die Schule wurde 2011 als »Etz Chaim Schule« wiedereröffnet. Es gibt nur noch vereinzelte jüdische Schüler und Lehrerinnen, vielmehr hat sich die polnische Schulleiterin dem Konzept der Schule vor ihrer Zwangsschließung durch die Nazis verschrieben: Weltoffenheit und Humanismus.

»Für mich ist diese Schule ein kleines Wunder«, sagt Tamar Cohn Gazit. Die kleine Frau mit den lächelnden Augen ist für die Ausstellungseröffnung aus Israel angereist, aber vorher wollte sie ihrer Familie, die zum ersten Mal nach Wrocław gekommen ist, diese Schule zeigen. Jetzt stehen sie alle im Foyer: ihre Tochter Tzurit, Cousin Schlomi und seine Tochter Siwan aus Israel, der weit entfernte David aus Schottland.

»Mein Großvater ging auf diese Schule, bevor er mit dem Kindertransport nach England kam«, sagt David. »Mein Vater auch«, ergänzt Schlomi. »Und sein Bruder, also mein Vater, auch«, sagt Tamar Cohn Gazit und lacht. »Die Schule hielt die Breslauer Gemeinde zusammen. Sie war eine Insel, auch, als es um die Juden in der Stadt immer enger wurde.«

Tamar Cohn Gazit stammt aus einer Breslauer Familie - und hat in Wrocław enge Freunde gefunden.Foto: Jerzy Wypych

Es gibt noch einen Ort, den Tamar Cohn Gazit ihrer Familie zeigen möchte, er liegt nur ein paar Minuten mit dem Taxi entfernt. Der Jüdische Friedhof an der Lohestraße wurde 1856 eröffnet, in dem Jahr, als auf dem alten Friedhof an der Gwarnastraße keine Toten mehr begraben werden konnten. Auch die Grabstätten an der Lohestraße wurden im Krieg schwer beschädigt – 1978 jedoch begannen hier Res­taurierungsarbeiten.

Ferdinand Julius Cohn, Heinrich Graetz und Ferdinand Lassalle

Heute strahlen auf den Steinen wieder die Namen der beeindruckenden Gemeinde: Ferdinand Julius Cohn, der neben Robert Koch als einer der Begründer der modernen Bakteriologie gilt, Heinrich Graetz, der als erster Historiker die jüdische Geschichte aufschrieb, oder Ferdinand Lassalle, der den »Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein« gründete, aus dem später die SPD hervorging.

Auch den Namen von Tamar Cohn Gazits Großvater kann man heute auf dem Friedhof lesen: Eine Plakette am Familiengrab erinnert an ihn. Er selbst konnte nicht hier begraben werden: Willy Cohn wurde mit seiner Frau und zwei Töchtern deportiert und in Kaunas erschossen. Tamar Cohn Gazit streicht mit den Fingern über die Plakette, über den Namen ihres Großvaters. Die Sonne flimmert auf dem Stein, oben rauschen die Bäume.

»Die Kastanien stehen immer noch«, sagt Tamar Cohn Gazit und lächelt, die Augen feucht glänzend. In einem seiner Tagebucheinträge beschreibt Willy Cohn, dass er mit seiner kleinen Tochter auf diesen Friedhof ging, um mit den heruntergefallenen Kastanien zu spielen. Der Südpark, wo die Cohns früher mit den Kindern spazieren gingen, war inzwischen »für Juden verboten«.

Als Tamar Cohn Gazit in den 90er-Jahren das erste Mal nach Wrocław kam, sei ihr die Stadt fremd und kühl vorgekommen, erzählt sie. Doch dann traf sie Agnieszka Jablonska, die Brüder Falk, Erinnerungsaktivisten und Nachfahren, die gegen das Vergessen im Heute kämpften. »Ich habe jetzt Freunde in Wrocław, eine neue Familie«, sagt sie. Der Schatten der Vergangenheit, der für sie lange über der Stadt hing, sei heller geworden.

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