René Loeb ist ein netter Herr mit großer Brille. Früher war er Verkaufsdirektor, heute hütet er zusammen mit seiner Frau oft die Enkelkinder, genießt den Ruhestand – vor allem aber pflegt Loeb seine Leidenschaft: die jüdische Genealogie. Woher komme ich, wie sieht mein Familienstammbaum aus? Wo haben meine Vorfahren gelebt, und wie? Das sind Fragen, die Loeb schon immer interessiert haben.
Vor etwas mehr als 25 Jahren setzte er darum eine kleine Anzeige ins damalige Israelitische Wochenblatt: »An jüdischer Genealogie Interessierte treffen sich bei mir zu Hause.« Das war die Geburtsstunde der Schweizer Vereinigung für Jüdische Genealogie, auch wenn die eigentliche Gründungsversammlung erst einige Monate später stattfand.
Themen Loeb wurde erster Vereinspräsident und beschloss, eine Zeitschrift für jüdische Familienforschung mit dem vielsagenden Titel Maajan (hebräisch: Quelle) herauszugeben. Das Magazin gibt es bis heute. Stolz hält Loeb, inzwischen Vereinsehrenpräsident, die jüngste Ausgabe in seinen Händen. Die Themenvielfalt ist groß, man findet Artikel über jüdische Konvertiten in Meran im 19. Jahrhundert oder über eine Begegnung von jungen Amerikanern mit Besuchern des jüdischen Friedhofs von Schmieheim (Baden) – alles, was die jüdische Genealogie berührt.
Was fasziniert Loeb an der Familienforschung? »Das Suchen nach den eigenen Wurzeln.« Nachdem der Großvater ihm von den Vorfahren erzählt hatte – einer war ein Chasan, der in Basel und Luxemburg amtierte –, fing Loeb an zu forschen. »Als ich ihn in den offiziellen Hochzeitsurkunden nicht fand, begann ich, anderweitig nach ihm zu suchen.«
Loeb fand schließlich heraus, dass sein Familienname erstmals 1809 in den Büchern erwähnt wurde. Nun wollte er mehr über die Genealogie wissen. Er tauchte immer tiefer in seine persönliche Familiengeschichte ein und entdeckte, dass sie nicht von der allgemeinen Geschichte zu trennen ist. »Ich erfuhr, dass jüdische Familienforschung eigentlich einfacher zu betreiben ist als allgemeine.« Weil viele Juden als Händler unterwegs waren, brauchten sie Ausweispapiere.
Über historische, aber auch andere Themen tauschen sich Loeb und seine Genealogen-Freunde am Vereinsstammtisch in einem Zürcher Lokal aus. Man vergleicht Erfolge oder Misserfolge bei der Suche nach Vorfahren, und manchmal sind Gäste zu Vorträgen eingeladen. Die Teilnahme am Stammtisch ist ebenso im jährlichen Mitgliederbeitrag von umgerechnet 60 Euro inbegriffen wie das Abonnement der Zeitschrift Maajan.
Nachwuchs Leider sei die Attraktivität des Vereins bei unter 45-Jährigen sehr gering, sagt Loeb. Dabei legen sich Sorgenfalten auf sein sonst freundliches Gesicht. Es fehlt der Nachwuchs. Auch Loebs eigene Kinder – sie stehen mitten im Berufsleben und sind mit der Kindererziehung beschäftigt – teilen seine Leidenschaft kaum. »Ich kann es ihnen nicht übel nehmen. Man setzt in diesem Lebensabschnitt meist andere Prioritäten, als nach dem Urgroßvater väterlicherseits oder einer Tante der Mutter zu suchen.«
Was Loeb allerdings ärgert, sind die Trittbrettfahrer, »Leute, die sich eigentlich für Ahnenforschung interessieren, auch regelmäßig zu den Stammtischen kommen, um Neues zu erfahren und davon zu profitieren, es aber ablehnen, bei uns Mitglied zu werden«.
Projekte Auch deshalb denkt Loeb zusammen mit seinen Vereinskollegen über neue Aufgabengebiete für den Verein nach. »Wir würden zum Beispiel gern in Deutschland oder Österreich Kurse für Barmizwa-Jungen und Batmizwa-Mädchen anbieten.« Oft fragten junge Menschen gerade dann zum ersten Mal danach, wo denn die Eltern von Opa und Oma gelebt haben. Und im Gegensatz zur Schweizer Vereinigung existiere im weiteren deutschsprachigen Raum nichts Entsprechendes.
Dass die jüngeren Schweizerinnen und Schweizer sich nur sehr wenig für ihre Vorfahren interessieren, beziehungsweise nicht im Verein nach ihnen forschen möchten, sei kein spezifisch jüdisches Problem, sagt Trudi Kohler. Sie ist Präsidentin der Schweizer Gesellschaft für Familienforschung (SGFF). In dieser Funktion nahm sie kürzlich am Festakt zum 25-jährigen Bestehen der Schweizer Vereinigung für Jüdische Genealogie teil. »Die Fragen nach dem Woher und dem Wohin stellt man eben eher am Lebensende als in der Lebensmitte«, sagt Kohler. Insofern habe sie die jüdischen Genealogen ein wenig trösten können.
Trost mögen René Loeb und seine Getreuen auch darin finden, dass der Festredner bei der Jubiläumsfeier kein Geringerer war als der bekannte Schriftsteller Charles Lewinsky. Der hatte vor fünf Jahren mit seinem bekannten Roman Melnitz ganz im Sinne der jüdischen Genealogen eine Familienchronik verfasst – wenngleich sie auch zum Teil fiktiv war.