Eine der großen jüdischen Persönlichkeiten Frankreichs ist tot: Der Mediziner, Schoa-Überlebende und ehemalige Widerstandskämpfer Adolphe (»Ady«) Steg starb am Sonntag im Alter von 96 Jahren.
EMIGRATION Geboren wird Steg am 27. Januar 1925 – auf den Tag genau 20 Jahre vor der Befreiung des Todeslagers Auschwitz – in der damaligen Tschechoslowakei. Sein Vater Martin Steg verlässt das kleine Heimatdorf 1928 und wandert nach Frankreich aus; vier Jahre später zieht der Rest der Familie nach. Ady Steg wächst in Paris auf.
Zwei Jahre der Besetzung Frankreichs durch deutsche Truppen wird sein Vater im Juni 1942 nach Auschwitz deportiert. Ady Steg geht währenddessen weiter auf sein Gymnasium, muss aber einen Judenstern tragen, was seine Klassenkameraden zunächst schockiert.
»Das löste in der Klasse Emotionen und Bestürzung aus. Bestürzung, weil die meisten meiner Klassenkameraden nicht wussten, dass ich Jude oder Ausländer war«, erinnert sich Steg 1987. Sein Französischlehrer Binon habe daraufhin einen Text des Denkers Montesquieu durchgenommen, in dem dieser sich für religiöse Toleranz ausspricht.
»Ich erinnere mich an jenen Moment, in dem wir in absoluter Stille eine Stunde lang über Toleranz sprachen, und als wir anschließend auf den Pausenhof gingen, versammelten sich meine Klassenkameraden um mich, und einige von ihnen - was damals überhaupt nicht üblich war - umarmten mich sogar. Das veranschaulichte mir in meinem tiefsten Inneren meine totale Integration.«
BESATZUNG Kurze Zeit später hat Ady Steg Glück. Er entgeht der Razzia im Juli 1942, die später als »Rafle du Vel-d’Hiv« in die Geschichtsbücher eingeht. Gemeinsam mit seiner zwei Jahre jüngeren Schwester Albertine flieht er nach Südfrankreich, wo er von einem katholischen Geistlichen und dessen Bruder versteckt wird.
Der Mönch habe, um Juden zu retten, nicht erst auf Papst Johannes XXIII., das Zweite Vatikanische Konzil oder die Erklärung Nostra Aetate gewartet, sagt Ady Steg später. »Sein christlicher Glaube allein genügte ihm, wie seinem Bruder Victor, um das Opfer zu bringen. Wir schulden ihnen ewige Dankbarkeit.« 1944 wird Steg Mitglied der Widerstandsgruppen Forces françaises de l’intérieur (FFI), die aktiv gegen die deutschen Besatzer kämpfen.
Wie sein Vater überlebt auch Ady den Krieg. Er nimmt ein Medizinstudium auf und spezialisiert sich auf Urologie. 1953 wird er Arzt und 1957 Chefarzt am Cochin-Krankenhaus in Paris. Von 1976 bis 1990 leitet Steg die Urologie-Abteilung der Klinik. Er wird zum Präsidenten der Französischen Gesellschaft für Urologie und später zum Generalsekretär der Europäischen Vereinigung für Urologie gewählt.
Anfang der Neunziger Jahre operiert Steg zweimal den an Prostatakrebs erkrankten französischen Staatspräsidenten François Mitterand. Von den Universitäten in Jerusalem und Athen wird er zum Ehrendoktor ernannt.
ENGAGEMENT Auch in der jüdischen Gemeinschaft engagiert sich der Mediziner. Als Student übernimmt er den Vorsitz der Pariser Sektion des jüdischen Studierendenbundes UEJF und wird Vizepräsident des Weltbundes jüdischer Studierender (WUJS).
1970 wird Steg zum Präsidenten des jüdischen Dachverbands CRIF in Frankreich gewählt, ein Amt, das er vier Jahre später wieder abgibt. Von 1985 bis 2011 steht er der 1860 in Berlin gegründeten Kulturorganisation Alliance Israélite Universelle vor, deren Ehrenvorsitzender er bis zu seinem Tod bleibt.
Auch bei Untersuchungskommissionen zur Geschichte Frankreichs im Zweiten Weltkrieg und zur »Entschädigung« enteigneter Opfer wirkt Ady Steg mit. 2001 ernennt ihn Präsident Jacques Chirac zum Offizier der französischen Ehrenlegion. Chirac dankt »dem Professor, dem Präsidenten, der Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, aber auch und vielleicht ganz besonders dem kleinen siebenjährigen Jungen, der damals mit offenem Herzen nach Frankreich kam«.
Der amtierende CRIF-Präsident Francis Kalifat nannte Ady Steg am Sonntag auf Twitter »ein Vorbild für uns alle«.