Maor Malul lebt seit vier Jahren in Israel. Der 40-jährige Informatikingenieur ist einer von Tausenden venezolanischen Juden, die in den vergangenen 15 Jahren der Bolivarischen Republik und ihrem Sozialismus den Rücken gekehrt, Alija gemacht und in Israel eine neue Heimat gefunden haben.
Die Idee vom »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« scheiterte nicht erst mit dem Tod des sich zunehmend selbstherrlich gebärdenden Hugo Chávez im März 2013. Der Verfall des Erdölpreises schränkte die Subventionspolitik der Regierung ein. Korruption und Klientelpolitik trugen das Ihrige zur Wirtschaftskrise bei. Eine Inflation von derzeit 320 Prozent hat besonders die Kaufkraft der Mittelschicht, zu der viele Juden gehören, schrumpfen lassen. So beträgt das Gehalt eines Universitätsprofessors inzwischen umgerechnet rund 20 US-Dollar – für einen Spülschwamm bezahlt man im Laden zwei Dollar.
Die Regale in den Supermärkten sind leer: kein Milchpulver, kein Klopapier, kein Maismehl, keine Zahnpasta, kein Öl, kein Reis. 70 Prozent der Konsumgüter müssen importiert werden. »Meine Eltern haben seit einem Jahr kein Rindfleisch mehr gegessen, weil die Rente hinten und vorne nicht reicht«, sagt Malul. Seine Urgroßmutter stamme ursprünglich aus Düsseldorf, sagt er. Andere sefardische Vorfahren seien über Curaçao nach Venezuela gekommen.
Ökonomie »70 Prozent meiner jüdischen und die Hälfte meiner nichtjüdischen Freunde haben inzwischen das Land verlassen«, sagt Maor Malul, »die meisten aus rein ökonomischen Gründen.« Aus wirtschaftlicher Sicht hatte Malul, anders als die meisten seiner jüdischen Landleute, eigentlich keinen Grund zur Klage. »Ich hatte einen gut bezahlten Job als Informatiker und bewohnte ein Apartment in einem der besseren Wohnviertel der Hauptstadt Caracas.«
Doch im April 2012 änderte sich alles. »Im Gegensatz zu meinen Eltern bin ich religiös. Ich trage immer meine Kippa.« Auf dem Weg nach Hause habe ihn eine ältere Chávez-Anhängerin auf der Straße wüst beleidigt, erzählt er. »Sie schrie: ›Scheißjude, hau ab!‹, bespuckte mich und versuchte, mich zu schlagen.«
Seit Jahren werden Juden zunehmend verbal angriffen, gelegentlich als »zionistische Agenten Israels« bezeichnet, es kam auch zu Übergriffen auf Einrichtungen der jüdischen Gemeinden. Zwar hatte Venezuela bereits 2009 die diplomatischen Beziehungen zu Israel abgebrochen – »aber solchen aggressiven Antisemitismus wie damals auf der Straße hatte ich noch nie zuvor bei uns im Land erlebt«, sagt Maor Malul.
»Unsere Familie ist jüdisch, aber wir fühlen uns auch als Venezolaner«, erzählt er. Die handgreifliche Attacke mit der Frau brachte für ihn jedoch das Fass zum Überlaufen. Neun Monate später saß er zusammen mit einem anderen jungen venezolanischen Juden im Flugzeug und machte, mit Unterstützung der Jewish Agency, Alija.
Kriminalität Der Fall von Malul sei außergewöhnlich, sagt eine jüdische Publizistin, die lieber anonym bleiben möchte, und warnt vor Verallgemeinerungen. Sie selbst hat vor zwei Wochen dem lateinamerikanischen Land den Rücken gekehrt und lebt jetzt bei Verwandten in Israel. »Die Mehrzahl der jüdischen Auswanderer verlässt Venezuela wie andere Emigranten vor allem wegen der Wirtschaftskrise«, sagt sie. Aber auch die steigende Kriminalität sei ein Grund, seine Zukunft im Ausland zu suchen.
Doch immer mehr Juden befürchten, der Antisemitismus im Land werde demnächst zunehmen. Vor wenigen Tagen hieß es in Presseberichten, dass der von Präsident Nicolas Maduro zum Vizepräsidenten nominierte Tarek El Aissami im Verdacht steht, antisemitisch zu sein. Er soll Verbindungen nach Teheran und zur Hisbollah haben. So manches Gemeindemitglied glaubt, El Aissami könnte den Antisemitismus zur Staatspolitik machen und den Nahostkonflikt noch weiter nach Südamerika importieren.
Zahlen Um die Jahrtausendwende lebten nach inoffiziellen Statistiken rund 20.000 Juden im Land. Doch seit der ehemalige Oberstleutnant Hugo Chávez im Dezember 1998 zum Staatschef gewählt worden war, ist die Zahl der Juden auf mehr als die Hälfte gesunken.
Den früheren Präsidenten der jüdischen Dachorganisation des Landes, der Confederación de Asociaciones Israelitas de Venezuela (CAIV), David Bittan, zitiert das Online-Portal reportero24 mit der Erklärung: »Es gibt keinen Zensus, aber die Zahl der Ausgewanderten dürfte mehr als 50 Prozent betragen.« Derzeit leben nach inoffiziellen Schätzungen noch zwischen 6000 und 9000 Juden in Venezuela, bei einer Gesamtbevölkerung von rund 30 Millionen.
Im Jahr 2015 wurden nach Angaben der israelischen Regierung 111 venezolanische Juden als Einwanderer registriert. Das sind doppelt so viele wie drei Jahre zuvor.
Für das vergangene Jahr liegen noch keine statistischen Angaben vor. Doch es ist zu beobachten, dass die Tendenz, Alija zu machen, unter den Juden Venezuelas deutlich steigt. Dass die Zahl venezolanischer Neueinwanderer in Israel zugenommen hat, sei nach den Erfahrungen von Maor Malul sogar in den Supermärkten des Landes zu spüren. So gebe es inzwischen Lebensmittel, die nur bei Venezolanern beliebt seien.
Erst kürzlich hat die israelische Regierung jedoch die Einwanderung von neun jüdischen Konvertiten aus der Bolivarischen Republik verweigert. Sie seien in einer nicht anerkannten Gemeinde übergetreten.
Situation In der jüdischen Dachorganisation CAIV möchte niemand – »mit der Bitte um Verständnis« – die Problematik der jüdischen Auswanderer kommentieren oder konkrete Zahlen nennen. »Venezuela erlebt derzeit eine sozialpolitisch schwierige und ökonomisch komplizierte Situation«, analysiert Claudio Epelman, der Geschäftsführer des Lateinamerikanischen Jüdischen Kongresses in Buenos Aires. »Das trifft auch auf die jüdische Gemeinschaft zu, denn sie ist Teil der Gesellschaft in Venezuela.«
Während die jüdischen Gemeinden in den venezolanischen Großstädten wie Caracas, Maracaibo, Porlamar, Valencia und Maracay immer kleiner werden, wächst die Gemeinde im Nachbarland Panama. Derzeit leben in dem mittelamerikanischen Land rund 20.000 Juden. »In den vergangenen Jahren hat sich die Zahl der Juden durch die Zuwanderer aus Venezuela verdoppelt«, berichtete David Perets, Rabbiner der größten Synagoge Shevet Ahim in der panamaischen Hauptstadt Panama-Stadt, Reportern der spanischen Nachrichtenagentur efe.
Für Geschäftsleute und gut ausgebildete Einwanderer bietet Panama-Stadt zahlreiche berufliche und ökonomische Möglichkeiten. Andere versuchen ihr Glück in Miami, dem Zentrum der Latinomigranten. Und wieder andere erinnern sich an ihre deutschen, spanischen oder portugiesischen Wurzeln und bewerben sich um die Staatsbürgerschaft eines europäischen Landes.