Als Zvi Gorelick und sein Bruder Nahum in Namibia aufwuchsen, war das jüdische Leben in dem südwestafrikanischen Wüstenland noch ein anderes. Damals, in den 50er-Jahren, zählte die Gemeinde in der Hauptstadt Windhoek 400 bis 500 Mitglieder. Die Synagoge war regelmäßig voll besetzt; sie beteten, feierten und aßen miteinander. »Das waren unsere besten Zeiten«, sagt Zvi Gorelick.
Seitdem ist die Gemeinde auf ein Zehntel ihrer damaligen Größe geschrumpft. Die Alten seien gestorben, erzählt Gorelick, und die Jungen zum Studieren und Arbeiten ins Ausland gegangen.
GESCHICHTE An einem Mittwochvormittag sitzt Zvi Gorelick in einem Nebenraum der Synagoge in Windhoek, es ist die letzte im Land. Über ihm hängen Porträts der bisherigen Gemeindevorsitzenden, von 1917 bis heute. Sie alle hätten maßgeblich zur Entwicklung Namibias beigetragen, sagt Gorelick.
Da ist zum Beispiel Sam Cohen, der in den 1920er-Jahren schweres Gerät für den Straßen- und Bergbau ins Land brachte. Oder der Unternehmer Harold Pupkewitz, der in Namibia ein bis heute erfolgreiches Baumarkt-Imperium errichtet hat.
Viele Juden trugen massiv zur Entwicklung des Landes bei.
Gorelicks Blick gleitet über die Galerie, sie endet mit dem aktuellen Ehrenvorsitzenden und seinen Stellvertretern: Zvi Gorelick, sein Bruder Nahum und Laurie Pieters, Nachkomme einer der ältesten jüdischen Familien in Namibia. Gorelick zeigt auf das Trio, an dessen Spitze er selbst steht, und sagt: »Jetzt liegt es an uns, die Dinge am Laufen zu halten.« Einfach sei das nicht. Zumal bald wahrscheinlich auch die letzte Synagoge Namibias schließen wird.
arm und reich Das Gebäude befindet sich im Herzen der Hauptstadt Windhoek, umgeben von einer dicht befahrenen Straße und einem Einkaufszentrum. Die Szenerie zeigt, wie weit die Schere zwischen Arm und Reich im dünn besiedelten Namibia auseinanderklafft. In den Geschäften nebenan herrscht Hochkonjunktur. Vor der Synagoge betteln Straßenkinder und Obdachlose derweil um ein paar Cent, manchmal bewaffnet mit zerbrochenen Flaschen oder Messern.
»Es ist nicht mehr sicher hier«, sagt Gorelick. Die Frauen hätten schon lange damit aufgehört, ihre Kinder zur Gemeinde zu bringen. Und auch die wenigen erwachsenen Mitglieder kommen immer seltener. Die Plätze, die einst so begehrt waren, bleiben nun selbst an den Hohen Feiertagen zum Großteil leer. Ein Minjan ist schon lange nicht mehr zusammengekommen.
»Man fühlt sich in der großen Halle verloren, mit all den Erinnerungen, wie es einmal war«, sagt Nahum Gorelick. »Dabei sollte es eigentlich ein spiritueller, friedlicher Ort sein, an dem man beten und zusammenkommen kann.« Die Synagoge diene ihrem Zweck nicht mehr. Ein Verkauf, sagt Gorelick, sei der einzig sinnvolle Schritt.
MUSEUM Lange haben die Gemeindevorsitzenden nach einem Interessenten gesucht. Ein potenzieller Käufer ist kurzfristig abgesprungen, weil er das nötige Geld nicht aufbringen konnte. Schließlich hat sich die Tochter des Unternehmers Harold Pupkewitz dazu entschlossen, die Synagoge zu kaufen und in ein jüdisches Museum umzuwandeln. Seit vier Jahren laufen die Verhandlungen, besiegelt ist noch nichts.
Weil die Gegend unsicher ist, bringen Eltern ihre Kinder nicht zur Gemeinde.
Nahum Gorelick gibt die Hoffnung auf einen Abschluss nicht auf. »Mit einem jüdischen Museum hätte unsere Gemeinde ein Vermächtnis in Namibia«, sagt er, »etwas, das bleibt.« Außerdem könnte das Museum Touristen und Interessenten anlocken – und wer weiß, vielleicht sogar neue Gemeindemitglieder. Sein Bruder Zvi würde die Synagoge am liebsten behalten. Aber auch er sieht ein, dass die besten Zeiten vorüber sind.
Wie soll es dann weitergehen für die verbliebenen jüdischen Familien in Namibia? Die Gorelicks und der Vizevorsitzende Pieters wollen einen anderen Dreh- und Angelpunkt für das jüdische Leben in Windhoek schaffen: einen Ort, an dem es ruhig und sicher ist und zu dem auch Eltern mit Kindern gerne kommen.
verkauf Bis der Verkauf der Synagoge endgültig abgeschlossen ist, sind ihnen jedoch die Hände gebunden, auch aus finanziellen Gründen. »Es fühlt sich oft so an, als wären wir mit unserer Gemeinde am Ende angekommen«, sagt Nahum Gorelick. »Aber es gibt Arbeit zu tun, um das Ende von uns fernzuhalten. Und das tun wir.«
Als Mitglied des African Jewish Congress trifft er sich regelmäßig mit anderen Vertretern aus der Region. Dass sich Gemeinden langsam auflösen, sei ein weit verbreitetes Problem.
»Namibia ist ein Stimmungsbarometer für viele Länder südlich der Sahara«, sagt Nahum Gorelick. Von Simbabwe bis Botswana, von Mosambik bis Malawi: Überall würden die Mitgliederzahlen seit Jahrzehnten sinken; den Nachwuchs ziehe es in Länder mit mehr Perspektiven. Einzig in Südafrika sei die jüdische Gemeinde noch vergleichsweise groß und aktiv. Antisemitismus sei dort jedoch ein großes Problem, anders als etwa in Namibia.
Wenn sich die Vertreter des African Jewish Congress austauschen, geht es deshalb vor allem um ein Thema: Wie lässt sich der scheinbar unaufhaltsame Trend doch noch umkehren? Wie kann man das Judentum im südlichen Afrika bekannter und attraktiver machen?
HERAUSFORDERUNGEN Nahum Gorelick hat lange in der Kommunikationsbranche gearbeitet. Er weiß, wie man Menschen für etwas begeistert. Er weiß aber auch, dass das jüdische Leben in Namibia viele Herausforderungen mit sich bringt.
»Wir leben hier in einer Welt der Kompromisse«, sagt er, »und Kompromisse sind nicht immer einfach.« Ein Beispiel: Wer sich in Namibia koscher ernähren will, muss Fleisch aus Südafrika importieren lassen – vorausgesetzt, das Veterinäramt erteilt die nötige Genehmigung. Die größte Einschränkung sei jedoch der fehlende Minjan, sagen Zvi und Nahum Gorelick. Das werde ihnen immer wieder schmerzlich bewusst.
In den letzten 60 Jahren ist die Gemeinde auf ein Zehntel geschrumpft.
Der Gedanke an ein Leben im Ausland ist den beiden Brüdern nicht fremd. Nahum Gorelicks Kinder sind nach Kanada und in die Vereinigten Staaten ausgewandert, nur eine Tochter ist in Namibia geblieben. »Sollte auch sie gehen, werden wir uns fragen müssen, ob wir ihr folgen und mit unserer Familie ein anderes Leben führen wollen, fern von Namibia.«
Zvi Gorelick wiederum hat zwei Mal längere Zeit in Israel verbracht. Es sei ihm zu laut gewesen, zu überfüllt, sagt er. Nach einer Weile hat es ihn wieder zurück in seine Heimat Namibia gezogen. Immer, wenn er sich doch mal wieder nach einer größeren Gemeinde sehnt, erzählt Gorelick, klingelt sein Telefon und jemand bittet ihn um Hilfe. Also bleibt er. »Namibia mag ein kleiner Teich sein«, sagt er und lacht laut, wie so oft, »aber ich bin hier ein großer Fisch.«