Am Samstagabend war Dani Baran »sehr, sehr besorgt«. Als er von den Bombenanschlägen am Stadion im Istanbuler Stadtteil Besiktas erfuhr, dachte er sofort an seine Freunde, die zum Fußballspiel gegangen waren. Im Laufe des Abends erhielt er Lebenszeichen von allen. Dani Baran atmete auf, aber so richtig entspannt ist er nicht.
Der junge Istanbuler listet die Attentate auf, die innerhalb eines Jahres in der Türkei verübt wurden: Knapp 20 terroristische Vorfälle mit mehreren hundert Toten sind es.
Einen Tag vor den jüngsten Anschlägen hatte er in einem Telefonat noch gesagt: »Das Leben in der Türkei ist gefährlich, wir wissen nie, wann was passieren kann.« In dem Gespräch war es um die Frage gegangen, ob seit dem »15. Juli« mehr türkische Juden als sonst das Land verlassen. Diese Nachricht kursiert nämlich in unterschiedlichen Medien im Ausland.
Putschversuch Mit dem Gedanken, sein Geburtsland zu verlassen, spielt auch Dani Baran. Das aber habe, sagt er, nicht allein mit der Situation nach dem Putschversuch zu tun, für den unter Regierungskritikern »15. Juli« zum Synonym geworden ist.
Baran hat Politikwissenschaft studiert, promoviert derzeit über die Beziehungen zwischen Israel und der Türkei und sieht für sich keine berufliche Zukunft in seiner Heimat. Er würde gern in ein europäisches Land auswandern. Aufgrund seiner akademischen Spezialisierung bezweifelt er aber, dass er dort große Chancen auf dem Arbeitsmarkt hätte.
Jüngst hat er mit Nachforschungen zur portugiesischen Staatsbürgerschaft begonnen. Denn wie auch Spanien hat Portugal kürzlich das Staatsangehörigkeitsrecht modifiziert, um sefardischen Juden die Einbürgerung zu ermöglichen. »Das Prozedere für den spanischen Pass ist mit sehr hohen Kosten verbunden, 5000 Euro mindestens muss man wohl ausgeben«, sagt Baran. So viel Geld könne in einem Land wie der Türkei aber kaum jemand aus der Mittelschicht aufbringen. Die portugiesische Staatsbürgerschaft, hat er gehört, sei erschwinglicher.
Einige seiner jüdischen Freunde und junge Leute aus dem Bekanntenkreis sind in den vergangenen Jahren nach Israel ausgewandert, andere bereiten sich darauf vor. Das berichtet der 31-Jährige und hängt einen Satz an: »Es bleiben vor allem die Alten hier.«
Wer eine Familie gründen wolle und einen jüdischen Ehepartner suche, der habe es schwer in der Türkei. Und die, die eine Familie haben, überlegten nunmehr, ob es wegen der Schulbildung des Nachwuchses nicht besser sei, in einem anderen Land zu leben. »Privatschulen sind teuer und staatliche Schulen wiederum aus anderen Gründen bedenklich«, sagt Baran.
Was er mit »bedenklich« meint, lässt sich an der Schulpolitik der AKP-Regierung erklären, die seit nunmehr 15 Jahren an der Macht ist. Islamischer Religionsunterricht ist nicht nur Pflichtfach an staatlichen Schulen, es werden auch immer mehr Schulen zu religiösen Ausbildungsstätten umgewandelt.
Loyalität 240 bis 400 jüdische Istanbuler sollen im Laufe dieses Jahres ausgewandert sein. Diese Zahlen kursieren in der jüdischen Gemeinde der Stadt. Über den »Göç« – so heißt Migration auf Türkisch – der Juden möchten nicht viele sprechen. Aus ganz unterschiedlichen Gründen. Die einen wollen nicht das Vorurteil bestärken, jüdische Bürger seien dem türkischen Staat gegenüber illoyal. Andere bekümmert die Tatsache, dass die einst so lebendige und große jüdische Gemeinde kaum mehr existiert.
Gerade einmal etwa 20.000 Juden leben Schätzungen zufolge heute in der Türkei. Ungefähr 18.000 von ihnen sind in Istanbul zu Hause, rund 1500 in Izmir, der Rest verteilt sich auf andere Städte wie Ankara, Bursa, Adana und Antakya. Ende der 20er-Jahre lebten noch rund 82.000 Juden in der Türkei.
Keiner der jüdischen Gesprächspartner bestreitet den »Göç«. Doch keiner möchte ihn auf die jüngsten Entwicklungen in der Türkei zurückführen.
»Bitte schreiben Sie so etwas nicht!«, ruft denn auch Mois Gabay ins Telefon. Der Kolumnist der jüdischen Zeitung »Salom« mit Sitz in Istanbul hält es für falsch, die Migration von türkischen Juden auf die aktuelle Politik zurückzuführen. »Die Ursachen dafür sind vielschichtig«, erklärt der 33-Jährige. Er nennt zunächst ökonomische Gründe, dann kommt er auf die demografische Entwicklung und die Diskriminierung von Minderheiten in der Türkei zu sprechen. Sie betreffe nicht nur Juden, sondern alle Bevölkerungsgruppen, die nicht muslimisch seien.
Die Ausgrenzung führt Gabay unter anderem auf Unwissenheit zurück. In seinem Hauptberuf ist er in der Tourismusbranche tätig. Gemeinsam mit dem Jüdischen Museum Istanbul bietet er immer wieder Führungen zu jüdischen Stätten an.
Kürzlich veröffentlichte er in der Wochenzeitung Salom einen Artikel über »die andauernde Migration und die jüdischen Türken, die immer weniger werden«. Aus den Zeilen spricht die Trauer über die beschriebene Entwicklung, aber auch der trotzige Hinweis an die eigene Gemeinschaft, standzuhalten und dem Land nicht den Rücken zu kehren, damit nicht nur die Erinnerung an die Juden und der Satz »Hier haben sie einst gelebt« übrig bleibt.
Für das Fortbestehen jüdischen Lebens in der Türkei sollten sich, so Gabay, aber nicht nur die jüdische Gemeinde, sondern die türkische Bevölkerung im Ganzen und der türkische Staat verantwortlich fühlen.
Studium Nicht alle jungen Juden wollen ihre Heimat verlassen. Betsy ist eine von denen, die bleiben möchten. Sie ist wie Dani Baran und Mois Gabay in Istanbul geboren und aufgewachsen. Vor Kurzem hat die 24-Jährige ihr Jura-Studium beendet und begonnen, als Anwältin zu arbeiten.
Wie Dani Baran hat auch Betsy Freunde, die ausgewandert sind. »Einige sind nach Kanada gegangen, manche in die USA und andere nach Israel«, erzählt Betsy. Die Beweggründe derer, die gehen, kann sie gut verstehen, in diese Gruppe möchte sie sich aber ungern einreihen. »Ich bin verrückt nach Istanbul«, sagt Betsy – und fügt einen Satz hinzu: »Solange ich nicht gezwungen werde, bleibe ich hier.«