Seinen Apotheker hielt Aaron de Haas immer für einen intelligenten Mann. Bis zum letzten Mal, als er ihn aufsuchte. Jahrelang hatten er und seine Frau Anne bei ihm ihre Medikamente gekauft. Nun wollte Aaron de Haas sich verabschieden. »Wir ziehen um – nach Israel«, erklärte er. Hinter seinem Tresen spitzte der Apotheker die Ohren.
»Nach Israel? Kommen Sie von dort?« Aaron verneinte. »Wir ziehen dorthin. Die Lage hier wird nicht besser, all dieser Antisemitismus.« Der Apotheker, schien es, hatte noch Erklärungsbedarf. »Nun, die Juden und das Geld ...«, setzte er an. Aaron de Haas hatte genug gehört. Wieder einmal. »Ich werde keine Diskussion mehr mit ihm beginnen«, dachte er und verabschiedete sich.
Einige Tage später stehen Aaron de Haas, 79, und seine Frau Anne, 58, vor dem Haus, das nicht mehr das ihre ist. Ganz aus Holz ist es und liegt in Elten, einem Randquartier von Emmerich, zwischen Arnheim und Duisburg. Wenige Kilometer weiter beginnen die Niederlande. 13 Jahre lang haben sie hier gewohnt.
Doch nun, an einem drückend warmen Tag Ende Juni, laufen seit dem frühen Morgen acht in Blau gekleidete Umzugshelfer ins Haus hinein und wieder heraus. Immer wieder, mit Möbeln und Kartons, Kartons und Möbeln. Der erste der beiden See-Container ist fast voll. Die Container werden nach Haifa verschifft. Von dort geht es weiter ins neue Zuhause der de Haas’ – nach Safed.
abschied Juden, die Europa verlassen, sind ein Thema, das zuletzt auch in großen Medien viel Aufmerksamkeit bekam. Anschläge auf jüdische Einrichtungen, zahlreiche körperliche Angriffe und Bedrohungen, bis hin zum antisemitischen Mord an der Pariser Holocaust-Überlebenden Mireille Knoll – all dies hat die öffentliche Wahrnehmung geschärft.
Dass auch das Psychologenpaar de Haas seine Erfahrungen gemacht hat, kann man sich nach der Anekdote mit dem Apotheker denken. Doch es ist nicht so, dass hier zwei gebrochene Menschen ihre Siebensachen packen. »Wir wollen hier weg, aber wir wollen auch dort hin«, präzisiert Aaron. Seine Frau antwortet auf die Frage, ob die beiden bereit für den großen Schritt sind: »Seit Jahren schon!« Und lacht, aus vollem Herzen.
Es ist ein langer Prozess, der diesem Abschied zugrunde liegt – ein Mosaik der Entfremdung, bestehend aus zahlreichen Momenten von Ablehnung und Diskriminierung. Schockiert blickt Europa in dieser Zeit auf Gewalt gegen Juden, die sich vielerorts Bahn bricht, in einer Art, wie viele das nicht für möglich gehalten hätten. Oder zumindest nicht wahrhaben wollten. Denn das, was davor passiert, die Ebene des Drohens und Beleidigens, bleibt auch heute noch meist im Dunkeln.
Hakenkreuz Anne und Aaron de Haas, sie aus Hamburg, er aus Hoorn am Ijsselmeer, wurde, körperlich gesehen, kein Haar gekrümmt. Wohl fanden sie eines Tages ein Hakenkreuz auf ihrem Schuppen vor, als sie auf einem Bauernhof auf der niederländischen Seite der Grenze lebten.
Ein unzufriedener Kunde ihres gemeinsamen Coaching-Betriebs schrieb Aaron einst, man sollte ihn vergasen. Ihr Büro im niederländischen Veenendaal wurde mit Eiern beworfen. Als Anne ihrem Sohn Arije vor Kurzem eine Handyhülle mit Magen-David-Aufdruck schenkte, kommentierte einer seiner Bekannten, seine Mutter müsse ihn wohl sehr hassen. Vor Jahren wurde Arijes erste Freundin in der Schule als »Judenhure« beschimpft.
Situationen wie diese ziehen sich durch die Biografien der beiden. Was umso beklemmender ist, da Aaron als Kleinkind in einem Versteck den Holocaust überlebte. In der Grundschule in Hoorn nannte ihn jemand einen »dreckigen Scheißjuden«. Womit er nichts anfangen konnte, denn über die Schoa wurde bei ihm zu Hause ebensowenig gesprochen wie über die eigene Identität. Wie könnte man sich da wundern, dass das Ehepaar sich nicht zu Hause fühlt, trotz des idyllischen Eigenheims und des lauschigen Gartens. Aaron sagt: »Ich komme mir wie ein Fremder vor. Und ich kann mich an nichts anderes erinnern.«
Antisemitismus Doch es ist nicht nur die Abkehr von Europa und die Judenfeindlichkeit, die wieder salonfähig wird, was beide antreibt. Wenn Anne in diesem Frühjahr gefragt wurde, ob es kein Wagnis sei, nach Israel zu ziehen, sagte sie stets: »Das ist kein Wagnis, sondern eine große Freude.« Ihr Mann erinnert sich nun, mit Ende 70, daran, dass er mit Anfang 20 ein halbes Jahr in Israel verbrachte, Hebräisch lernte und sich vornahm: »Einst werde ich zurückkommen.«
Der Wunsch nach einem Leben in jüdischer Umgebung, nach dem Ende dieses Gefühls der Fremdheit, hat bei beiden mit den Jahren zugenommen.
Weil aber das Haus lange keinen Käufer fand, blieb das Paar zunächst in der Warteschleife. Der Verkaufspreis lag schließlich niedriger als erhofft, weshalb man auch das Ferienhaus in Österreich verkaufen musste. Im Winter fanden Anne und Aaron in Israel eine neue Bleibe.
Es folgten Monate des Packens und Vorbereitens. Nun stehen nur noch Formalitäten an, mit Behörden, Versicherungen und dem Notar. Nervig, sagt Aaron, und verdreht die Augen. Doch das Projekt Alija steht nun kurz vor der Vollendung. Anne kommt die Treppe hinunter in die leere Diele, wo sich bis zum Morgen noch Kartons stapelten. Was sie gerade beschäftigt? »Wir dürfen pro Person 63 Kilo mitnehmen«, erklärt sie die Bestimmungen des »El-Alija-Tickets« der israelischen Fluggesellschaft EL AL. »Ich hoffe, wir bleiben darunter.«
Es ist früher Nachmittag, als Aaron de Haas die Mesusa vom Türpfosten entfernt. Womöglich hat er, der als Hobby alte Möbel restauriert, sie einst zu gut befestigt. Mit vereinten Kräften lösen sie die Mesusa vom Holz. »Nun ist dies kein jüdisches Haus mehr«, stellt Aaron nüchtern fest. Seine Frau erläutert derweil den weiteren Fahrplan: »Wir holen gleich unseren Mietwagen ab, fahren noch zwei Stunden und übernachten in einem Hotel. Am nächsten Tag geht es dann weiter nach Heidelberg zu unserem Sohn, um uns zu verabschieden. Von dort fahren wir zum Flughafen, wo wir die letzte Nacht im Hotel verbringen.«
Familie 400 Kilometer südöstlich blickt derweil Arije de Haas dem Besuch seiner Eltern entgegen. Mit durchaus gemischten Gefühlen, wie er am Telefon erzählt. »Dass sie gehen, war für mich lange Zeit weit weg. Es mussten ja noch so viele Dinge passieren. Für meine Eltern ist es die beste Entscheidung, zu gehen. Eben gerade wegen dieses großen Wunschs, in Israel zu leben. Aber sie sind doch auch meine einzigen Familienangehörigen hier. Es wird eine komische Situation, als einziger noch hier in Deutschland zu sein. Meine Freundin und ich sprachen schon darüber, ob das sinnvoll ist. Gerade weil mein Vater schon älter ist.«
Arije de Haas ist 25 und studiert Bildungswissenschaft in Heidelberg. Seine jüdische Freundin stammt aus den USA. Auch sie lebt als einzige ihrer Familie in Deutschland. Gedanken macht er sich auch, wie der Kontakt sein wird. »Schaffen sie es, übers Internet in Verbindung zu bleiben?«, fragt er sich. »Oder wird der Kontakt weniger, weil es nicht richtig klappt?«
Die antisemitischen Erfahrungen der Eltern kann Arije aus seinem Umfeld nicht bestätigen. Wobei: »Man ist schon gezwungen, mit dieser jüdischen Identität irgendetwas zu tun.« Er erzählt von einer Freundin, die sie in der Freizeit lieber geheimhält. »Und ich sage es immer gleich. Ich habe schon erlebt, dass jemand, dem ich das nach einer Party erzählte, antwortete: ›Das hättest du besser nicht gesagt.‹ Danach hörte ich nichts mehr von ihm.«
In den Semesterferien wird Arije de Haas mit seiner Freundin nach Safed reisen. Der Besuch ist ein Geburtstagsgeschenk für Aaron, der davon noch nichts weiß. Arije freut sich, das neue Zuhause seiner Eltern kennenzulernen, wo er beim Innenausbau helfen will. Melancholisch ist er höchstens wegen des verkauften Ferienhauses in Österreich. »Dort habe ich meine Ferienzeit und große Teile der Kindheit verbracht. Dass meine Eltern wegziehen, wiegt natürlich noch schwerer. Aber dass dieser geliebte Ort wegfällt, da musste ich erst einmal schlucken.«
Vier Tage später geht über dem Frankfurter Flughafen eine strahlende Sonne auf. Der Check-in-Schalter von EL AL in der Abflughalle C liegt noch verwaist da, nur langsam trudeln die ersten Reisenden ein.
Um elf Uhr wird der Flieger abheben, vier Stunden und zehn Minuten später soll er in Tel Aviv landen. Um 7 Uhr 40 nehmen Anne und Aaron de Haas vor ihrem Hotel ein Taxi. Während der zehnminütigen Fahrt führt ein junger Polizist einen schwarzen Bombensuchhund um den Schalter. Jeden Winkel schnüffelt er ab, ebenso das Gepäckband. Die Wartenden an einem Ende der Halle müssen kurzfristig ihre Plätze verlassen.
aufregung Als der Hund fertig ist, erscheinen Anne und Aaron, jeder einen Trolley mit vier Gepäckstücken schiebend. »Ein bisschen schlafen konnten wir immerhin«, meint Aaron. In die Vorfreude mischt sich Aufregung. »Es ist doch spannend«, räumt er ein. »Aber jetzt müssen wir erst einmal dort ankommen.« Die Abschiede von Arije und seiner Freundin, sagt er, waren intensiv.
Den letzten Schabbat in Europa verbrachten sie gemeinsam mit den beiden. »Es gab spezielle Rosch-Haschana-Challe, weil sie uns ein süßes erstes Jahr in Israel wünschen«, erzählt Anne. Auf Aarons Gesicht erscheint ein Lächeln. »Arije sagte, wenn wir nicht einmal pro Woche lange telefonieren, holt er uns zurück.«
Anne hat derweil ein Bild vor Augen. »Ich denke oft daran, wie ich morgens aufwachen werde und barfuß in den Garten gehe.« Aaron schaut ein wenig entgeistert. »Barfuß? Wieso denn das?« – »Damit ich die Erde fühlen kann«, antwortet seine Frau. Um 8 Uhr 18 schieben beide ihre Trolleys zum Check-in. Sechseinhalb Stunden noch, dann werden sie auf dem Ben-Gurion-Flughafen ankommen, die Formalitäten erledigen und dann weiterreisen nach Safed.
Abends um halb neun schickt Anne noch eine Nachricht: »Wir stehen vor der Tür und warten auf den vorigen Besitzer mit dem Schlüssel.« Später am Abend kommt eine weitere: Der Besitzer ist gekommen. Anne und Aaron de Haas sind in ihrem neuen Haus.