Streit in einer der ältesten jüdischen Diasporagemeinden. Die Turiner israelitische Gemeinde hat ihren Oberrabbiner Alberto Somekh entlassen. Zum ersten Mal in der Geschichte der Juden Italiens wurde ein Rabbiner vor die Tür gesetzt. Dass es Somekh getroffen hat, hat viele überrascht, denn er steht seit 1992 als religiöser Leiter an der Spitze der Comunitá Ebraica di Torino. Die Entlassung ist Höhepunkt einer Auseinandersetzung, die die gesamte jüdische Gemeinschaft bewegt: Seit Monaten müssen sich die Gemeinden mit Mitgliederschwund, sinkenden Geburtszahlen, einem Anstieg gemischt-religiöser Ehen und finanziellen Engpässen auseinandersetzen. Besonderer Konfliktstoff ist aber die tiefe Spaltung der Gemeinschaft in religiösen Fragen und das angespannte Verhältnis zwischen Vertretern orthodoxer Glaubenspraktiken und liberalen Vorstellungen eines jüdischen Religionslebens.
mangel an pluralismus In den Augen seiner Kritiker hat der orthodoxe Rabbiner Alberto Somekh den Bogen überspannt. Sein ausgesprochen streitsüchtiger persönlicher Stil habe einen erheblichen Teil der überwiegend nichtreligiösen 900 Mitglieder der Turiner Gemeinde gegen ihn aufgebracht. Besonders der Mangel an Pluralismus und die zunehmende orthodoxe Starrheit in der offiziellen Gemeinde habe dazu geführt, dass viele italienische Juden der Synagogengemeinschaft enttäuscht den Rücken gekehrt hätten.
»Das italienische Judentum war immer orthodox, aber es hat stets alle akzeptiert und Religiöse wie Nichtreligiöse unter einem Dach vereint«, sagt Daniele Nahum, der 27-jährige Vizepräsident der Mailänder Gemeinde. »Jetzt aber nehmen die Rabbiner eine zunehmend konservative Haltung ein, was viele dazu treibt, sich der Reformbewegung oder Chabad anzuschließen.«
Die jüdische Präsenz in Italien geht bis in die römische Zeit zurück. Heute leben rund 30.000 Juden im Land, doch nur 25.000 von ihnen sind Mitglieder der offiziellen Gemeinden Italiens in Städten wie Turin, Mailand und Rom – und die Zahl geht von Jahr zu Jahr zurück. Die meisten Juden leben in Rom, mit rund 12.ooo Gemeindemitgliedern, und Mailand mit cirka 6.000 Mitgliedern. Zusammengeschlossen sind die 21 Gemeinden in der Unione delle Comunitá Ebraiche Italiane (UCEI), die sie offiziell politisch vertritt.
Vor etwa drei Jahren, als Verantwortliche der Turiner Gemeinschaft erstmals versuchten, Somekh seines Postens zu entheben, beschuldigte der Präsident der Turiner Gemeinde, Tullio Levi, den Oberrabbiner schon, dieser hege den weniger religiösen Gemeindemitgliedern gegenüber »eine kaum verhohlene oder sogar offen zutage liegende Verachtung« und es »mangele ihm völlig an Sensibilität und Offenheit« für ihre Probleme. Im Frühjahr 2009 kündigten die Gemeindeführer Rabbiner Alberto Somekh. Dessen Berufung dagegen wurde jetzt zurückgewiesen, seine Entlasssung damit rechtskräftig.
rabbinische führung Historisch war die Orthodoxie die einzige anerkannte jüdische Strömung in Italien, und die Vorkommnisse um Somekh veranschaulichen die Spannungen zwischen den offiziellen orthodoxen Verantwortlichen und Teilen der breiteren jüdischen Bevölkerung. »Die Führung der italienischen jüdischen Gemeinschaft ist sehr daran interessiert, vom rabbinischen Establishment in Israel weiterhin als orthodox anerkannt zu werden«, sagt Lisa Palmieri Billig, Repräsentantin des American Jewish Committee in Rom. »Aber es ist eine Tatsache, dass sich viele italienische Juden so verhalten wie Reform- oder Liberale Juden in anderen Ländern oder hundertprozentig säkular sind. Das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer emotional geschlossenen und kulturell einheitlichen ›ethnischen‹ Gruppe fehlt.«
Es gibt aber auch Gemeindemitglieder, die Somekh unterstützen. 250 Personen haben sich zu einer Facebook-Gruppe zusammengeschlossen, um ihm zu helfen. »Es ist deutlich geworden, dass einem großen Teil der Gemeinde die geistigen Mittel abhanden gekommen sind, die Rolle eines Rabbiners im Sinne der jüdischen Tradition zu verstehen«, schreibt Paolo Schiunnach auf Facebook. »Rabbiner sind nicht nur Funktionäre mit einem Gehalt, die lediglich seelsorgerische Pflichten erfüllen und predigen«, erklärt er. »Der Rabbiner ist ein Gelehrter, der die Smicha erhalten hat und befugt ist, Entscheidungen in Bezug auf die Bedürfnisse der Gemeinde und auf allgemeine und spezielle Halacha zu treffen.«
Offensichtlich haben die Gemeindevorstände Italiens keine Strategie, mit den kleinen Reformgemeinden umzugehen, die sich im Lauf der vergangenen Jahre in Mailand und anderen Städten etabliert haben. Obwohl sie von der UCEI weder anerkannt noch finanziell unterstützt werden, bieten einige von ihnen ein zunehmend breites Spektrum an Dienstleistungen, einschließlich des Übertritts, und sie suchen den Kontakt zu Juden in Misch-ehen und jenen, die sich den offiziellen Institutionen entfremdet fühlen. Chabad ist seit mehr als 50 Jahren in Italien präsent und in Rom, Mailand, Venedig und anderen Städten sehr aktiv. Doch auch Chabad bewegt sich außerhalb der offiziellen jüdischen Gemeinden.
Reformen In einem Versuch, wenigstens einen Teil der zentralen Probleme anzugehen, hat die UCEI eine gründliche Überprüfung der offiziellen Vorschriften, die das organisierte jüdische Gemeindeleben regeln, in Auftrag gegeben. Die Aufgabe wurde einem UCEI-Sonderausschuss übertragen. In den letzten Monaten hat die Arbeit des Ausschusses innerhalb der jüdischen Gemeinschaft eine breite Diskussion ausgelöst. Ein Großteil der Reformen zielt auf organisatorische Probleme. Aber auch die Beziehungen zwischen Rabbiner und Gemeinde werden erörtert, darunter auch die Frage, ob die Amtszeit der Oberrabbiner eventuell beschränkt werden sollte.
Die zentralen jüdischen Institutionen müssen »sich der zunehmend komplexen, globalisierten und multiethnischen größeren Gesellschaft öffnen«, erklärte UCEI-Präsident Renzo Gattegna bereits 2008 in einem offiziellen Bericht. Ebenso müssten sie »jene alten Vorurteile, Engstirnigkeiten und Missverständnisse zwischen größeren und kleineren Gemeinden ablegen, die das Potenzial der italienischen Juden schwächen«.
»Es gibt eine gigantische demografische Krise« im italienischen Judentum, sagt der Herausgeber der jüdischen Monatszeitschrift Pagine Ebraiche, Guido Vitale. Letztendlich aber, sagt er,» zählen Werte, nicht Zahlen«.