Sie beten auf Englisch und Hebräisch. Zu ihnen gehören die erste britische Rabbinerin Jackie Tabick sowie Claude Montefiore (1858–1938), der das Reformjudentum einst nach Großbritannien brachte, oder Menschen, die in den 30er-Jahren aus Deutschland flüchteten, wie Rabbiner Werner Van der Zyl (1902–1984). Heute gelten Rabbinerin Julia Baroness Neuberger oder Rabbi Josh Levy zu ihren wichtigsten Vertretern. Ihre Gemeinden unterhalten Synagogen, die zu den größten und schönsten Großbritanniens gehören, etwa die West London Synagogue oder die Alyth Synagogue im Nordwesten Londons.
Bisher agierten die beiden progressiven jüdischen Strömungen Liberal Judaism und Movement of Reform Judaism separat, manchmal standen sie sogar miteinander im Streit, obwohl ihre Rabbiner schon lange gemeinsam am Londoner Leo Baeck College ausgebildet werden. Vergangene Woche erklärten sie nun, sich am 1. Mai zur jüdischen Bewegung »Progressive Judaism« zusammenzuschließen.
Schon lange werden Rabbiner beider Bewegungen am Leo Baeck College ausgebildet.
Die Geschäftsführerin des bisherigen Liberal Judaism, Rabbinerin Charley Baginsky, und Rabbi Josh Levy von der Londoner Reform-Synagoge Alyth werden die neue Bewegung gemeinsam führen. Beide beschreiben die Vereinigung als »eine natürliche Entwicklung«, die ihre Stimme in Zukunft klarer und lauter machen werde, sowohl in Großbritannien als auch weltweit.
Zudem würde die Arbeit der Rabbiner und Kantoren damit erleichtert, betonten sie. Schon seit mehreren Jahrzehnten werden Rabbiner und Rabbinerinnen der beiden Bewegungen beidseitig eingestellt. Ansonsten beschränkte sich die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Strömungen bisher vor allem auf Aktionen für soziale Gerechtigkeit.
Trotz mehrfacher Versuche in den 70er- und 80er-Jahren, Liberal Judaism und Movement for Reform Judaism zu vereinigen, blieben beide 120 Jahre lang separat – anders als beispielsweise in den Vereinigten Staaten oder in Israel. »Wir haben länger dafür gebraucht als Moses für seine Wanderung durch die Wüste«, sagen Baginsky und Levy lachend.
Konversionen Früher gab es oft Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden Bewegungen, heute hingegen sehe man vor allem die Gemeinsamkeiten, wie etwa das Willkommenheißen interkonfessioneller Familien sowie egalitäre Gottesdienste oder gleichgeschlechtliche Trauungen.
Im Jahr 2015 fiel die letzte Hürde zwischen den beiden Bewegungen, als sie Kinder mit nur einem jüdischen Elternteil, egal ob Vater oder Mutter, ohne Konversion als jüdisch anerkannten. Danach konnte man kaum mehr einen wirklichen Unterschied zwischen den beiden progressiven Bewegungen ausmachen.
Während der Corona-Pandemie und der Zeit danach erfuhr die progressive Bewegung Aufwind. Plötzlich gab es Online-Gottesdienste, und unzählige Freiwillige setzten sich für andere ein. All dies habe dann zu dem Entschluss geführt, sich zusammenzuschließen, sagen Baginsky und Levy.
DEMOGRAFIE Möglicherweise gab es aber noch einen weiteren Grund, den die beiden jedoch nicht nannten: Laut einer Studie des Londoner Institute for Jewish Policy Research (JPR) ist die Zahl der Gemeindemitglieder zwischen 1990 und 2016 in allen jüdischen Strömungen (außer dem ultraorthodoxen Judentum, das eine höhere Geburtenrate verbucht) stark zurückgegangen.
Die Demografen haben herausgefunden, dass sich inzwischen nur noch 56 Prozent der Haushalte mit mindestens einer jüdischen Person einer Gemeinde anschlossen. Dies hat gravierende Folgen: So sah sich wegen schwindender Mitgliederzahlen die 1928 gegründete Londoner West Central Liberal Synagogue gezwungen, sich aufzulösen.
Die Jugendorganisationen der beiden bisherigen Bewegungen bleiben separat.
Baginsky und Levy betonen, dass die Gottesdienste in den mehr als 80 Synagogen der beiden Bewegungen auch nach dem Zusammenschluss in den jeweils unterschiedlichen Traditionen gehalten werden dürfen. Beide bisherige Bewegungen seien gleichberechtigte Partner in der neu gegründeten Organisation, die mit rund 40.000 knapp ein Drittel der Gemeindemitglieder im Vereinigten Königreich vertritt. Trotz des Zusammenschlusses sollen jedoch die Jugendbewegungen der beiden separat bleiben.
Die konservativen Masorti-Gemeinden sind der neuen Vereinigung nicht beigetreten. Rabbi Jonathan Wittenberg, einer der führenden Masorti-Rabbiner in Großbritannien, erklärte der Jüdischen Allgemeinen, er gratuliere der neuen Bewegung. Masorti werde gründlich prüfen, wie man nun die wichtige Stellung zwischen dem orthodoxen und dem progressiven Judentum definiere.
Wittenberg sagt, er habe schon vor 40 Jahren, als er am Leo Baeck College mit Mitgliedern beider Bewegungen studierte, die Möglichkeit eines Zusammenschlusses erahnt – und sich gewundert, warum es so lange gedauert habe, bis es nun endlich dazu kam.