Schweiz

Aargauer Schtetl

Was haben der Regisseur William Wyler (Ben Hur), der Komponist Ernest Bloch und die Künstlerin Peggy Guggenheim miteinander gemeinsam? Auf alle Fälle eines: Sie selbst oder ihre Vorfahren stammen aus einem der beiden »Judendörfer« Endingen oder Lengnau.

Die idyllisch gelegenen Orte zwischen Basel und Zürich sind sehr geschichtsträchtig. Während einer langen Zeit durften Juden nur hier und sonst nirgends in der Schweiz wohnen. Das war, nachdem die großen Städte im Mittelalter das geltende Zinsverbot für Christen aufgehoben hatten. Die jüdischen Geldverleiher verloren damit ihre wichtige Rolle und wurden mit ihren Familien aus den Städten vertrieben.

schutzbriefe In die Bresche sprangen dann Endingen und Lengnau in der Grafschaft Baden. Selbstverständlich taten sie das nicht aus Nächstenliebe, sondern aus handfesten wirtschaftlichen Gründen: Den Verkauf von Schutzbriefen an Juden ließen sie sich gut bezahlen. Und so lebten Mitte des 19. Jahrhunderts etwa 1000 Juden in Endingen und in Lengnau um die 500. Gleichberechtigt mit der christlichen Bevölkerung waren sie allerdings nicht: Davon zeugen heute noch Hauseingänge mit zwei Türen – eine für Christen, eine für Juden.

Erst nach 1866, als der Druck auf die Schweizer Behörden auch aus dem Ausland immer größer wurde, stellte man die jüdischen Endinger und Lengnauer den christlichen gleich. Und man hob die Wohnsitzpflicht auf. Jüdische Familien konnten nun auch in die Städte ziehen. Beschrieben hat das alles wohl am besten Charles Lewinsky in seinem großartigen Roman Melnitz.

Jüdisches Leben in Endingen und Lengnau ist also heute vor allem Geschichte – eine Art »jüdisches Freiluftmuseum der Schweiz« hat es der Zürcher Religionslehrer Michel Bollag einmal genannt. Doch es gibt in beiden Orten auch heute noch jüdische Einwohner, ja sogar eine Kultusgemeinde und ein jüdisches Altersheim. Und: Die beiden Synagogen stehen groß und unübersehbar in den Zentren der beiden Dörfer.

führungen Auf die jüdischen Sehenswürdigkeiten der beiden »Judendörfer« macht seit einigen Jahren der »Jüdische Kulturweg« aufmerksam, ein beschilderter Rundgang durch die beiden Orte, der gelegentlich um Führungen ergänzt wird. Weil die Schweiz nur wenige derartige Orte vorzuweisen hat, stößt dieser Kulturweg sowohl im Land als auch bei den Nachfahren von William Wyler, Peggy Guggenheim und vielen anderen auf großes Interesse.

Doch gerade die Besucher von weit her kämen in den beiden Dörfern nicht auf ihre Kosten, findet der frühere Direktor des Schweizer Fernsehens, Roy Oppenheim, der selbst in Lengnau wohnt. Er kritisierte kürzlich in mehreren Zeitungen den Umgang der beiden Dörfer mit ihrer jüdischen Vergangenheit.

Im Dorfmuseum von Lengnau zum Beispiel, sagte Oppenheim, der selbst eine der treibenden Kräfte hinter dem Kulturweg ist, seien die jüdischen Lebenswelten der beiden Orte praktisch kein Thema. »Außer einem Grabstein ist dort absolut nichts über die vielfältige Geschichte der Juden zu sehen.« Im Vergleich zu anderen Ländern gehe die Schweiz geradezu nachlässig mit ihrem jüdischen Erbe um, findet Oppenheim.

surbtal Er kritisiert aber nicht nur die seiner Meinung nach mangelnde geschichtliche Auseinandersetzung mit der jüdischen Minderheit in den Dörfern. Auch das lokale Gewerbe bekommt sein Fett weg: »Alljährlich reisen mehrere Tausend Menschen ins Surbtal. Die Besucher staunen über dieses Welterbe der Kultur, das dank gütlicher Fügung in der Schweiz erhalten geblieben ist.« Doch könnten sie sich weder koscher verpflegen noch jüdische Souvenirs oder eine DVD über die beiden Dörfer kaufen, denn all dies gebe es nicht.

Es fehle an Unternehmergeist und Fantasie, findet Oppenheim. »Dabei geht es der Region wirtschaftlich nicht so gut, dass sie es sich leisten könnte, auf einen solchen touristischen ›Zustupf‹ zu verzichten.« Der hohe Frankenkurs hat in dieser wie vielen anderen Grenzregionen des Landes manche Geschäfte zur Aufgabe gezwungen. Gerade dieser Teil der Kritik stößt etwa bei Endingens Gemeindepräsident Lukas Keller auf Verständnis: »Man könnte dieses Potenzial tatsächlich stärker ausschöpfen«, sagte er kürzlich der Aargauer Zeitung.

Bei Zurzach Tourismus, dem Organisator der Führungen über den Jüdischen Kulturweg, hat man ebenfalls eine gewisse Sympathie für Oppenheims Rundumschlag: »Auch wir warten darauf, dass das Ganze auf eine professionellere Basis gestellt wird.« Zum Beispiel durch die Gründung eines Trägervereins. Deshalb werde es in diesem Sommer keine geführten Rundgänge auf dem Jüdischen Kulturweg geben, sagt eine Vertreterin von Zurzach Tourismus: »Die Führungen sind vorläufig noch defizitär, und wir müssen schauen, wie wir sie finanzieren können.«

Der Trägerverein solle bis spätestens Mitte des Jahres gegründet werden, sagt Franz Bertschi, der Vizegemeindepräsident von Lengnau. »Bisher wurde das Ganze tatsächlich zu amateurhaft vermarktet«, räumt er ein. Einer Professionalisierung stehe aus seiner Sicht nichts im Weg.

Es ist also gut möglich, dass der Jüdische Kulturweg ab 2014 Menschen aus vielen Teilen der Welt anzieht und sie auf angemessene Weise mit der jüdischen Geschichte von Endingen und Lengnau vertraut macht. Ein besonderer Zeuge der jüdischen Vergangenheit wird allerdings nie mehr zu sehen sein: ein Haus im Zentrum, in dem zwischen 1875 und 1903 eine der wenigen Mazzenbäckereien, die es in der Schweiz gab, untergebracht war. Das Gebäude wurde erst kürzlich abgerissen, nachdem es seit 1972 leer gestanden hatte. Der Versuch einer Arbeitsgruppe, ein »Haus der Toleranz« für verschiedene Religionen aufzubauen, scheiterte – vor allem aus finanziellen Gründen.

www.juedischerkulturweg.ch

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