Niederlande

7200 Transaktionen

Journalistenplattform konfrontiert Kommunen mit Raub jüdischen Eigentums während der deutschen Besatzung

von Pieter Lamberts  05.11.2020 08:55 Uhr

Auch nahe der Synagoge in der Groninger Folkingestraat wurden jüdische Häuser enteignet. Foto: Pieter Lamberts

Journalistenplattform konfrontiert Kommunen mit Raub jüdischen Eigentums während der deutschen Besatzung

von Pieter Lamberts  05.11.2020 08:55 Uhr

Ein Nationalarchiv enthält das Beste und das Übelste der Geschichte eines Landes. So auch in Den Haag. Als das Beste könnte man vielleicht das »Plakaat van Verlathinge« von 1581 bezeichnen, die Geburtsurkunde der heutigen Niederlande. Einige der übelsten Archivstücke sind die sogenannten Verkaufsbücher, die fast 7200 Transaktionen mit geraubtem jüdischen Eigentum enthalten, zu einem Wert von umgerechnet rund 580 Millionen Euro.

Sie sind ein Dokument der finanziellen Entrechtung der niederländischen Juden vonseiten der deutschen Besatzer und der Habgier und Gewissenlosigkeit eines Teils der nichtjüdischen Niederländer.

Pointer Im vergangenen Jahr sind die Verkaufsbücher digitalisiert und jedermann zugänglich gemacht worden. Die ebenfalls 2019 gegründete Datenjournalisten-Plattform »Pointer« hat in einjähriger intensiver Arbeit der Entrechtung ein Gesicht gegeben.

»Wir von Pointer sind zufällig auf dieses Thema gestoßen. Auf einer Preisverleihung hörten wir von den Verkaufsbüchern und erfuhren, dass das Nationalarchiv sie digitalisiert hatte. Hinzu kam, dass 2020 der 75. Jahrestag der Befreiung der Niederlande gefeiert werden würde«, erzählt der Datenjournalist Jerry Vermanen.

Die Journalisten haben die Daten inventarisiert und analysiert, in welchen Kommunen wie viele Objekte enteignet worden sind und ob Namen bestimmter Makler, Notare oder Käufer häufiger vorkommen.

Schicksal Genauso wichtig sei ihnen jedoch auch das Schicksal der in den Verkaufsbüchern erwähnten jüdischen Besitzer, sagt Vermanen. »Anhand der Gegebenheiten wollten wir in individuelle Existenzen hineinzoomen, um den nackten Fakten der Kalkulationstabellen ein Gesicht zu geben, zum Beispiel in Form von Interviews mit Betroffenen oder ihren Nachkommen.«

Einer von ihnen ist Frederik van Gelder, Mitte 70, Enkel eines Metzgers in Den Helder. In einem Interview auf Pointers Webseite erzählt er seine Familiengeschichte. Die Großeltern sind deportiert und ermordet worden, seine Eltern haben in einem Unterschlupf überlebt, wo er 1945 geboren wurde.

»Nach dem Krieg bekamen meine Eltern mit etwas Mühe das Haus meiner Großeltern zurück, das damals niederländische Nazis bewohnten. Meine Eltern haben später vom deutschen Staat auch eine Wiedergutmachung für das geraubte Inventar bekommen, ich glaube 4000, 5000 Gulden. Aber das Ganze bleibt abstrus«, erläutert Van Gelder verbittert.

Letztendlich haben nach dem Krieg ungefähr 90 Prozent der in den Verkaufsbüchern genannten Eigentümer oder ihre Erben ihren Besitz zurückerlangt.

Letztendlich haben nach dem Krieg ungefähr 90 Prozent der in den Verkaufsbüchern genannten Eigentümer oder ihre Erben – viele Inhaber sind nie zurückgekehrt – ihren Besitz zurückerlangt. Auch hat man anhand der Bücher vielen Kriegsprofiteuren das Handwerk legen können.

So hat Pointer herausgefunden, dass ein Amsterdamer Makler namens Sindorf die 40 Häuser, die er (für eine Gesamtsumme von umgerechnet rund drei Millionen Euro) gekauft hatte, zurückgeben musste und außerdem für fünf Jahre Berufsverbot erhielt.

REchte Zwar wurde nach dem Krieg der Versuch unternommen, die Rechte der niederländischen Juden wiederherzustellen, doch gleichzeitig zeigten sich die Behörden auch unsensibel. So bekamen jüdische Eigentümer Steuerbescheide über einen Zeitraum, den sie in einem Lager oder in einem Unterschlupf verbracht hatten, und das oft noch erhöht um ein Strafgeld.

Inzwischen haben die Kommunen Amsterdam, Rotterdam und Den Haag das frostige Verhalten bedauert und sind der heutigen jüdischen Gemeinschaft finanziell entgegengekommen. Pointer fragt sich jedoch, was man in den anderen Kommunen über die damaligen Machenschaften weiß.

Die Journalisten haben deshalb einen Fragebogen erstellt und an die 225 in den Verkaufsbüchern genannten Kommunen verschickt. 80 Prozent antworteten, sie wüssten nichts von den Verkaufsbüchern, 60 Prozent wollen der Sache auf den Grund gehen, und 20 Kommunen, unter anderem Groningen, wollen untersuchen, wie sie sich im Zweiten Weltkrieg gegenüber jüdischen Wohnungseigentümern verhalten haben.

www.pointer.kro-ncrv.nl
www.nationaalarchief.nl

Kanada

Jüdische Mädchenschule in Toronto zum dritten Mal beschossen

Auch im vermeintlich sicheren Kanada haben die antisemitischen Angriffe extrem zugenommen - und richten sich sogar gegen Kinder

 23.12.2024

Bulgarien

Kurzer Prozess in Sofia

Der jüdische Abgeordnete Daniel Lorer wurde von seiner Partei ausgeschlossen, weil er nicht zusammen mit Rechtsextremisten stimmen wollte

von Michael Thaidigsmann  23.12.2024

Großbritannien

Gerechtigkeit und jüdische Werte

Sarah Sackman wurde als frisch gewählte Abgeordnete zur Justiz-Staatsministerin ernannt

von Daniel Zylbersztajn-Lewandowski  23.12.2024

Spanien

Tod in den Bergen

Isak Andic, Gründer der Modekette Mango und Spross einer sefardischen Familie aus der Türkei, kam bei einem Familienausflug ums Leben

von Michael Thaidigsmann  23.12.2024

Australien

»Juden raus«-Rufe vor Parlament in Melbourne

Rechtsextremisten haben vor dem Regionalparlament in Melbourne antisemitische Parolen skandiert

 23.12.2024

Guatemala

Rund 160 Kinder vor ultraorthodoxer Sekte gerettet

Laut Behördenangaben wurden auf dem Gelände von »Lev Tahor« mutmaßliche sterbliche Überreste eines Kindes gefunden

 22.12.2024

Analyse

Putins antisemitische Fantasien

Der russische Präsident ist enttäuscht von der jüdischen Diaspora im Westen und von Israel

von Alexander Friedman  22.12.2024

Diplomatie

Israel und Irland: Das Tischtuch ist zerschnitten

Politiker beider Länder überhäufen sich mit Vorwürfen. Wie konnte es so weit kommen?

von Michael Thaidigsmann  18.12.2024

Paris

Phantom einer untergegangenen Welt

Eine neue Ausstellung widmet sich der Geschichte und Rezeption des Dibbuks

von Sibylle Korte  18.12.2024