Ein Nationalarchiv enthält das Beste und das Übelste der Geschichte eines Landes. So auch in Den Haag. Als das Beste könnte man vielleicht das »Plakaat van Verlathinge« von 1581 bezeichnen, die Geburtsurkunde der heutigen Niederlande. Einige der übelsten Archivstücke sind die sogenannten Verkaufsbücher, die fast 7200 Transaktionen mit geraubtem jüdischen Eigentum enthalten, zu einem Wert von umgerechnet rund 580 Millionen Euro.
Sie sind ein Dokument der finanziellen Entrechtung der niederländischen Juden vonseiten der deutschen Besatzer und der Habgier und Gewissenlosigkeit eines Teils der nichtjüdischen Niederländer.
Pointer Im vergangenen Jahr sind die Verkaufsbücher digitalisiert und jedermann zugänglich gemacht worden. Die ebenfalls 2019 gegründete Datenjournalisten-Plattform »Pointer« hat in einjähriger intensiver Arbeit der Entrechtung ein Gesicht gegeben.
»Wir von Pointer sind zufällig auf dieses Thema gestoßen. Auf einer Preisverleihung hörten wir von den Verkaufsbüchern und erfuhren, dass das Nationalarchiv sie digitalisiert hatte. Hinzu kam, dass 2020 der 75. Jahrestag der Befreiung der Niederlande gefeiert werden würde«, erzählt der Datenjournalist Jerry Vermanen.
Die Journalisten haben die Daten inventarisiert und analysiert, in welchen Kommunen wie viele Objekte enteignet worden sind und ob Namen bestimmter Makler, Notare oder Käufer häufiger vorkommen.
Schicksal Genauso wichtig sei ihnen jedoch auch das Schicksal der in den Verkaufsbüchern erwähnten jüdischen Besitzer, sagt Vermanen. »Anhand der Gegebenheiten wollten wir in individuelle Existenzen hineinzoomen, um den nackten Fakten der Kalkulationstabellen ein Gesicht zu geben, zum Beispiel in Form von Interviews mit Betroffenen oder ihren Nachkommen.«
Einer von ihnen ist Frederik van Gelder, Mitte 70, Enkel eines Metzgers in Den Helder. In einem Interview auf Pointers Webseite erzählt er seine Familiengeschichte. Die Großeltern sind deportiert und ermordet worden, seine Eltern haben in einem Unterschlupf überlebt, wo er 1945 geboren wurde.
»Nach dem Krieg bekamen meine Eltern mit etwas Mühe das Haus meiner Großeltern zurück, das damals niederländische Nazis bewohnten. Meine Eltern haben später vom deutschen Staat auch eine Wiedergutmachung für das geraubte Inventar bekommen, ich glaube 4000, 5000 Gulden. Aber das Ganze bleibt abstrus«, erläutert Van Gelder verbittert.
Letztendlich haben nach dem Krieg ungefähr 90 Prozent der in den Verkaufsbüchern genannten Eigentümer oder ihre Erben ihren Besitz zurückerlangt.
Letztendlich haben nach dem Krieg ungefähr 90 Prozent der in den Verkaufsbüchern genannten Eigentümer oder ihre Erben – viele Inhaber sind nie zurückgekehrt – ihren Besitz zurückerlangt. Auch hat man anhand der Bücher vielen Kriegsprofiteuren das Handwerk legen können.
So hat Pointer herausgefunden, dass ein Amsterdamer Makler namens Sindorf die 40 Häuser, die er (für eine Gesamtsumme von umgerechnet rund drei Millionen Euro) gekauft hatte, zurückgeben musste und außerdem für fünf Jahre Berufsverbot erhielt.
REchte Zwar wurde nach dem Krieg der Versuch unternommen, die Rechte der niederländischen Juden wiederherzustellen, doch gleichzeitig zeigten sich die Behörden auch unsensibel. So bekamen jüdische Eigentümer Steuerbescheide über einen Zeitraum, den sie in einem Lager oder in einem Unterschlupf verbracht hatten, und das oft noch erhöht um ein Strafgeld.
Inzwischen haben die Kommunen Amsterdam, Rotterdam und Den Haag das frostige Verhalten bedauert und sind der heutigen jüdischen Gemeinschaft finanziell entgegengekommen. Pointer fragt sich jedoch, was man in den anderen Kommunen über die damaligen Machenschaften weiß.
Die Journalisten haben deshalb einen Fragebogen erstellt und an die 225 in den Verkaufsbüchern genannten Kommunen verschickt. 80 Prozent antworteten, sie wüssten nichts von den Verkaufsbüchern, 60 Prozent wollen der Sache auf den Grund gehen, und 20 Kommunen, unter anderem Groningen, wollen untersuchen, wie sie sich im Zweiten Weltkrieg gegenüber jüdischen Wohnungseigentümern verhalten haben.
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