Es war eines der schlimmsten Ereignisse, die Kiew jemals erlebt hat. Nach einer blutigen Schlacht war die deutsche Wehrmacht am 19. September 1941 in die Hauptstadt der damaligen Ukrainischen Sowjetrepublik einmarschiert. Obwohl die meisten Juden schon vor der Übernahme Kiews durch die Deutschen aus der Stadt geflohen waren, blieben noch etwa 50.000 zurück. Die neuen Machthaber ordneten an, dass alle jüdischen Männer, Frauen und Kinder am 29. September in die Schlucht Babi Jar kommen mussten. Sie sollten nur die wichtigsten Sachen und Dokumente mitbringen. Angeblich sollten sie umgesiedelt werden.
Was auf den Aufruf folgte, ist bekannt: Nach SS-Angaben wurden in Babi Jar in den ersten 36 Stunden mehr als 33.000 Juden erschossen. Bis zum 12. Oktober stieg die Zahl der Opfer um weitere 17.000.
Nach dem ersten Massaker blieb Babi Jar ein Ort von Massenerschießungen, bis die Besatzer im November 1943 aus Kiew vertrieben wurden. In dieser Zeit erschossen die Deutschen zusammen mit ukrainischen Kollaborateuren mehr als 100.000 Menschen in der Schlucht. Nur 29 konnten sich retten.
Nationalisten Das Massaker von 1941 war für die Sowjetunion lange kein Thema. Viele Details wurden jahrzehntelang verschwiegen. Der Holocaust passte nicht zum Mythos des Sowjetvolks als Hauptopfer und -leidtragender des Krieges. Und so wandelte man einen großen Teil der Schlucht in eine Verkehrsader um. Doch für sowjetische Dissidenten war es bereits in den 60er-Jahren Tradition, sich jedes Jahr am 29. September in Babi Jar zu versammeln.
Das erste Denkmal für die Opfer weihte man allerdings erst 1976 ein, während die meisten Gedenkstätten noch viel später, nach dem Zerfall der Sowjetunion, errichtet wurden. Doch auch in der unabhängigen Ukraine präsentierte sich der heutige Park nie wie eine Gedenkstätte. Der Umgang des jungen ukrainischen Staates mit den Schrecken von Babi Jar war wegen der häufig geleugneten Teilnahme der ukrainischen Hilfspolizei an dem Massaker schon immer etwas kompliziert.
Das soll sich nun ändern. Seit ein paar Monaten ist es laut rund um Babi Jar. Die Renovierungsarbeiten laufen auf Hochtouren, denn der 75. Jahrestag des Massakers von 1941 spielt in der Ukraine eine wichtige Rolle. »Es wird nicht leicht, wir haben doch für diesen Umfang ein wenig zu spät angefangen«, sagt Andrij, einer von Hunderten von Arbeitern, die in diesen Tagen die Rekonstruktion von Babi Jar verwirklichen.
Gedenkzeremonie An der großen Gedenkzeremonie sollen außer dem ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko auch Israels Staatspräsident Reuven Rivlin und Bundespräsident Joachim Gauck teilnehmen. »Wir haben vieles gemacht: Babi Jar sieht nun viel moderner aus«, sagt Anna Starostenko, stellvertretende Vorsitzende der Kiewer Stadtverwaltung. Unter anderem wurde ein modernes Lichtsystem installiert und viele neue Bänke errichtet. Am Wichtigsten ist aber etwas anderes: »In Erinnerung an die Menschen, die in Babi Jar ermordet wurden, gibt es nun zwei symbolische Alleen: die Allee der Märtyrer und die Allee der Rechtschaffenen.«
Kiews jüdische Gemeinde zeigt sich mit der Renovierung von Babi Jar zufrieden. Schließlich hat es lange gedauert, bis man die Stadt davon überzeugte, eine richtige Gedenkstätte zu errichten. »Die Verantwortlichen wollten dort nie etwas fürs Gedenken tun«, betont Gemeindechef Alexander Lewin. »Vor einigen Jahren sollte in der Schlucht gar ein Einkaufszentrum gebaut werden. Wir sagten damals: Nicht mit uns! Keine Mall auf dem Massengrab!«
Dass es in Kiew immer noch kein Holocaust-Museum gibt, finden viele Juden in der ukrainischen Hauptstadt sehr bedauerlich. Doch je näher der 75. Jahrestag des Massakers rückte, desto konkreter schienen die Pläne der Kiewer Stadtverwaltung zu werden.
tragödie Darauf hofft auch Lewin. »Die Nachgeborenen sollen diese Tragödie nie vergessen.« Ähnlich sieht es auch Arkadij Monastyrskij, Vorsitzender der Jüdischen Stiftung der Ukraine. »Dass es mit der Gedenkstätte in Babi Jar so lange gedauert hat, ist ein Verlust für Kiew«, betont er. »Vor allem ein moralischer. Heute haben wir viele junge Menschen in Kiew, die Babi Jar für einen gewöhnlichen Park halten – und nichts über seine blutige Geschichte wissen.«
Als Dmytro, ein 21-jähriger Student, aus der Zentralukraine nach Kiew zog, war ihm das alles nicht bewusst. »Als ich zum ersten Mal diesen Park sah, war ich begeistert. Es war schön, sich einen Kaffee zu holen und durchs Grüne nach Hause zu gehen«, erzählt er. »Dann habe ich Google Maps aufgemacht – oh Mann, das ist ja tatsächlich Babi Jar, das ich aus den Schulbüchern kenne.«
Heute ist Babi Jar vor allem im Sommer auch ein Ort, an den sich Familien und Liebespaare gern zurückziehen. Außerdem sieht man häufig Leute mit einem Buch oder auch mit ein paar Flaschen Bier. »Eigentlich stört das nicht«, sagt Angelina Lewenschtejn (50), die der jüdischen Gemeinde angehört und in der Nähe wohnt. »Für mich ist es wichtig, dass auch in dieser Gegend das Leben weitergeht. Hauptsache, das Massaker wird nie vergessen.«
Bis zum 10. Oktober finden in Kiew mehr als 30 Veranstaltungen statt, die an das Massaker von Babi Jar erinnern. Auf dem Programm stehen Filmfestivals und zahlreiche Ausstellungen, etliche davon in der Nähe der Schlucht.
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