Gewohnheit will sich auch nach 30 Jahren unter diesem Dach nicht einstellen. »Sie hatten dieselbe Aussicht, denselben Garten, dieselben Schlafzimmer.« Für Frits Rijksbaron (66) ist die Vergangenheit allgegenwärtig – und das Andenken an die früheren Besitzer seines Hauses Teil des Alltags.
Die jüdische Familie Gosschalk bewohnte bis zu ihrer Deportation das weiße, dreistöckige Gebäude im vornehmen Süden Amsterdams. Der Werbetexter und Konzeptentwickler Frits Rijksbaron entdeckte das, als er 1980 die Eigentumspapiere seines neu erworbenen Hauses durchging. Darin fand sich eine Akte über die Rückgabe 1946. »Dazu der jüdische Name«, sagt sich Rijksbaron. Somit konnte er auch die Worte des Vorbesitzers einordnen, des einzigen Überlebenden der vierköpfigen Familie: »Falls ich noch etwas finden sollte im Haus, bat er mich, es ihm zu bringen.«
Besatzung Schon damals hatte Rijksbaron die Idee, dieses Wissen öffentlich zu machen. Selbst kam er nicht zuletzt durch seine jüdische Exfrau, deren Mutter in einem Versteck die Besatzung überlebt hatte, mit dem Schicksal der niederländischen Juden in Kontakt. Es dauerte Jahre, bis Rijksbaron 2010 das Amsterdamer »4.-und-5.-Mai-Komitee« ansprach. An diesen beiden Tagen wird in den Niederlanden traditionell um die Kriegstoten getrauert sowie die Befreiung gefeiert. Das Ergebnis der Kooperation ist beim diesjährigen Gedenken nicht zu übersehen: »1 von den 21.662 Häusern«, steht in fetten schwarzen Lettern auf DIN-A-3-großen Postern. Und zwischen den Zeilen: »wo Juden wohnten, die im Zweiten Weltkrieg ermordet wurden«. Aushängen sollen sie zum Gedenken in möglichst vielen der betreffenden Häuser.
Ende April lagen die Poster der lokalen Tageszeitung Het Parool bei, die 1940 als illegale Widerstandszeitung gegründet wurde. »Wir wollten die Menschen nicht persönlich konfrontieren, indem wir sie ihnen in den Briefkasten werfen«, erklärt Projektkoordinatorin Olivia Somsen. Sie weist damit auf einen zentralen Punkt der Aktion hin: den persönlichen Charakter dieser Form des Gedenkens. Die heute wie damals bewohnten Häuser bilden eine Verbindung mit der eigenen Geschichte, die kaum noch sichtbar ist. »Es geht auch darum zu zeigen, wie jüdisch diese Stadt war. Zehn Prozent ihrer Bewohner waren Juden. Im Volksmund gilt Amsterdam heute noch als jüdische Stadt, aber man sieht davon nichts mehr. Hier wurden nicht so viele Gebäude zerstört wie in Rotterdam oder Nimwegen. In Amsterdam betraf der Schaden die Bevölkerung.«
Ausgesprochen positive Reaktionen gingen beim 4.-und-5.-Mai-Komitee ein. Nur vereinzelt, so Somsen, gebe es Überlebende, denen die Aktion zu konfrontativ ist. Die jüdischen Gemeinden hingegen begrüßen die Initiative: Margriet Kotek, Sprecherin der Portugees-Israëlietische Kerkgenootschap (PIK) hebt das »erzieherische Ziel« hervor, das die Amsterdamer in Kontakt mit ihrer Stadt während des Zweiten Weltkriegs bringe. »Eine sehr gute Aktion«, findet auch Benno van Praag, Direktor der Nederlands-Israëlitisch Hoofdsynagoge. Beide Synagogen liegen inmitten des alten Judenviertels, dessen Straßen entsprechend häufig Erwähnung finden in dem Register »jüdischer Häuser«, das der Zeitung ebenfalls beilag. Die Poster sieht van Praag auch »als Zeichen dafür, dass Juden ein Teil der niederländischen Gesellschaft sind und vor allem dieser Stadt, in die sie seit 400 Jahren integriert sind«.
Webseite Beteiligt an der Aktion ist auch die Webseite Joodsmonument.nl des Jüdisch-Historischen Museums, die sich als interaktives, digitales Denkmal der ermordeten Amsterdamer Juden versteht. Neben deren Namen enthält sie auch Informationen zu den 61.700 Ermordeten. Heutigen Bewohnern jüdischer Häuser will sie als Anlaufstelle dienen, wenn sie mehr über deren Geschichte herausfinden wollen. Ebenso können sie womöglich den Wissensstand ergänzen – so wie Frits Rijksbaron das tat. »Ich fand über die Eigentumsdokumente heraus, dass der andere Sohn der Gosschalks kurz nach der Befreiung Bergen-Belsens an Erschöpfung gestorben ist.« Neben dem Schritt in die Öffentlichkeit pflegt Rijksbaron im Übrigen sein persönliches Gedenken. »Ich versuche möglichst viel in meinem Haus unverändert zu lassen. Aus Respekt.«