Am Ufer des Flüsschens Leie, ganz in der Nähe der Verlorenkostbrücke südlich der Altstadt von Gent, liegt unter Kastanien ein mannshoher Kreisel aus Bronze. Man möchte meinen, das Kind eines Riesen hätte damit gespielt, später die Lust daran verloren und ihn einfach liegen lassen. Neben dem überdimensionierten Spielzeug klären ein Granitstein und vier Metallplatten darüber auf, dass der Kreisel ein Mahnmal ist. Er erinnert an die 87 Genter Juden, die im Holocaust ermordet wurden.
Das Monument am Lindenlei ist der einzige Ort in der 235.000-Einwohner-Stadt, an dem Jüdisches sichtbar in die Öffentlichkeit tritt. Anders als in Antwerpen oder Brüssel begegnet man auf den Straßen von Gent keinem Chassiden, und es gibt auch keine koscheren Restaurants und Geschäfte. Nicht einmal eine Synagoge steht in Gent. Die Gemeinde versammelt sich an den Feiertagen in einem protestantischen Kulturzentrum in der Kaizer-Karl-Straat. »Das ist keine Kirche«, betont Eliane Sperling-Levin, sondern nur ein großer Saal. »Wir nutzen die Räumlichkeiten, bringen unsere Torarolle mit und was wir sonst noch brauchen.«
Sperling-Levin ist so etwas wie der gute Geist der Gemeinde. Die betagte Dame mit dem schwarz gefärbten Haar, die über ihr Alter nur so viel verrät, dass sie »vor dem Krieg geboren« wurde, übt die Funktion der Gemeindesekretärin aus. Sie tut es ehrenamtlich – und in Heimarbeit, denn ein Gemeindehaus gibt es nicht.
Wer Sperling fragt, wie viele Menschen zur Gemeinde gehören, dem weicht sie aus: »Ich spreche nicht gern über Zahlen«, sagt sie. Doch habe sie einen Verteiler mit knapp 200 Adressen, an die sie die Einladungen zu Gemeindeveranstaltungen versende. »Allerdings sind nicht alle Adressen wertvoll«, schränkt sie ein, »und nicht alle Leute, die eingeladen werden, sind jüdisch.« Es sei charakteristisch für die Gemeinde, dass es viele nichtjüdische Freunde gebe. Zu ihnen gehöre die Familie des Künstlers Daniel Dutreux, der das Holocaust-Monument geschaffen hat.
Universität Charakteristisch für die Gemeinde ist auch die enge Verbindung mit der Universität, an der rund 32.000 Studenten eingeschrieben sind. Jüdische Wissenschaftler und Studierende, darunter immer wieder Israelis, finden vor allem an Festen wie Pessach und Rosch Haschana den Weg in die Gemeinde. Manchmal ergibt sich daraus eine Verbindung, die länger hält. »Wir geben uns Mühe, sie zu integrieren und nutzen ihre Fähigkeiten«, sagt Sperling.
Die Beziehung zwischen Universität und Gemeinde hat Tradition in Gent. Weil es in Mittel- und Osteuropa für Juden Zulassungsbeschränkungen gab, kamen zwischen 1922 und 1935 etliche hundert junge Menschen zum Studium in die Stadt. Viele der Frauen wählten Medizin, die Männer Ingenieurwissenschaften. Etliche wanderten nach dem Studium nach Palästina aus und machten sich dort verdient beim Aufbau Israels, andere blieben in Gent. Hier gab es Karrieremöglichkeiten in der Industrie. Eliane Sperling ist ein lebender Beweis für diesen Teil der Gemeindegeschichte: Ihre Mutter kam aus dem ostpolnischen Siedlce nach Gent, studierte Medizin, wurde Frauenärztin und blieb. Der Vater kam aus Warschau, um in der Stadt Ingenieur zu werden.
Seit etlichen Jahren gibt es eine weitere besondere Beziehung zwischen der Gemeinde und der Universität. Immer wieder treffen Patienten aus Israel in einer der örtlichen Transplantationskliniken ein, um eine neue Niere oder Leber zu bekommen. Manchmal warten sie hier in Gent noch monatelang darauf. Und wenn die Operation schließlich geglückt ist, werden sie noch einige Wochen zur Beobachtung dabehalten, bis die Ärzte sicher sind, dass der Körper des Patienten das fremde Organ auch angenommen hat. Einige Frauen und Männer in der Gemeinde haben es sich zur Aufgabe gemacht, diese Menschen zu betreuen: »Das ist Bikkur Cholim, die Mizwa, Kranke zu besuchen«, sagt Sperling.
In der Gemeinde erzählt man gerne die Geschichte von einem jungen Mann aus Israel, der vor mehr als zehn Jahren gemeinsam mit seiner Frau nach Gent kam, um eine neue Niere zu bekommen. Der Mann war unfruchtbar. Als das Spenderorgan transplantiert wurde, nahmen die Ärzte auch einen Eingriff vor, der den Mann zeugungsfähig machte. Am Ende verließ er Belgien nicht nur mit einer neuen Niere, sondern das Paar kehrte auch mit einem Baby nach Israel zurück.
Etliche Jahre lang besuchte Eliane Sperling mit ihrem inzwischen verstorbenen Mann auch im Herztransplantationszentrum im benachbarten Aalst jüdische Patienten. Doch inzwischen kommen keine Israelis mehr dorthin. »Das Ganze beruht auf Gegenseitigkeit, und damit gab es Probleme«, sagt Sperling. »Die Israelis schickten immer nur Patienten, die ein Herz brauchten, waren aber nicht bereit, auch mal ein Organ zu liefern.« Irgendwann hätten die Verantwortlichen in Aalst dann die Zusammenarbeit mit Israel beendet.
Pâtisserie Es ist nicht lange her, da gab es in Gent eine Institution, die noch viel mehr als die Universität das Gemeindeleben beeinflusste: Es war die Bäckerei und Pâtisserie Bloch in der Veldstraat. Als sie im Frühjahr 2008 schloss, endete eine Ära der Gemeindegeschichte. Fast 40 Jahre lang hatten sich Gents Juden um die Inhaber Jacques Bloch und seine Schwester Nicóle geschart. Sonntags, wenn die Bäckerei und das dazugehörende Café geschlossen waren, hielt die Gemeinde Woche für Woche in den Räumen Schiurim ab, fanden Sitzungen statt, Konzerte, Jom-Ha’atzma’ut-Partys und vieles mehr, in manchen Jahren sogar der gemeinsame Pessach-Seder.
Noch heute sagen viele, Blochs Bäckerei sei eine Art inoffizielles Gemeindezentrum gewesen. Koscheres Gebäck allerdings hat man dort selten gesehen. Vermisst hat dies kaum jemand in Gent, das ist bis heute so geblieben. Denn wer sehr religiös leben möchte, ist längst nach Brüssel oder Antwerpen gezogen.