Sie hatten keine Chance. Denn wenn in Majdal Shams die Sirenen heulen, hat man gerade einmal fünf bis sieben Sekunden Zeit, um sich in Sicherheit zu bringen. Schließlich liegt die von Drusen bewohnte Stadt – mit knapp 12.000 Einwohnern die größte auf dem Golan – unmittelbar am Fuße des Berges Hermon und ist nur wenige Kilometer Luftlinie von der Grenze zum Libanon entfernt. So waren die Kinder und Jugendlichen auf dem Fußballplatz der Rakete, die die Hisbollah in Richtung Israel abgeschossen hatte, schutzlos ausgeliefert. Zwölf von ihnen wurden bei der Explosion am späten Samstagnachmittag getötet, mehrere Dutzend teils schwer verletzt.
Am Sonntag fand die Beerdigung von zehn der zwölf getöteten Kinder und Jugendlichen statt, unter großer Anteilnahme der gesamten drusischen Gemeinschaft. Am Morgen wurden die kleinen weißen Särge hintereinander durch den Ort getragen. Verwandte, Freunde und Klassenkameraden der Kinder drängen sich daneben, viele tränenüberströmt. Sie trugen Blumenkränze und Fotos der Toten.
Der Trauerzug umfasste Tausende Menschen, die den Angehörigen und der gesamten drusischen Gemeinschaft ihr Mitgefühl und ihre Solidarität aussprechen wollten. Einige der Angehörigen halten den unermesslichen Schmerz nicht aus, brechen zusammen, fallen in Ohnmacht. Krankenwagen bahnen sich den Weg durch die Menge, um Erste Hilfe zu leisten.
»Dieser tödliche Anschlag ist die schlimmste Katastrophe in der Geschichte der Drusen.«
Scheich Muafak Tarif
»Gestern war ein dunkler Samstag für die Drusen und die Bewohner des Nordens. Es ist ein Samstag, der als Tiefpunkt der Menschheit in Erinnerung bleiben wird: durch das Töten von Kindern. Die Szenen des Grauens werden wir niemals vergessen«, sagt der spirituelle Anführer der Drusen, Scheich Muafak Tarif, bei der Beerdigung. »Dieser tödliche Anschlag ist die schlimmste Katastrophe in der Geschichte der Drusen.« Jihan Safadi, Direktorin der Al-Manahel-Grundschule, wo fünf der Mädchen und Jungen lernten, sagte der Nachrichtenagentur AP, die gesamte Gemeinde stehe unter Schock. Die Situation sei extrem schwierig. »Niemand kann verstehen, was passiert ist.«
Zu dem traurigen Anlass waren auch Vertreter aus Politik und Armee erschienen, darunter Wirtschaftsminister Nir Barkat und Finanzminister Bezalel Smotrich. Eigentlich war ihr Kommen explizit unerwünscht, Vertreter der Drusen wollten keine Instrumentalisierung der Opfer des Raketenangriffs. Die Politiker kamen trotzdem und mussten sich viel Kritik anhören. »Jetzt erst lasst ihr euch blicken? Zehn Monate lang seid ihr nicht gekommen«, zitiert die »Times of Israel« einen wütenden Mann, der sie beschuldigte, die Region im Stich gelassen zu haben – ein Vorwurf, den Vertreter israelischer Kommunen im Norden gelegentlich anreisenden Politikern immer wieder machen. Dieses Gefühl vereint jüdische und drusische Israelis, die seit Monaten in Reichweite der Hisbollah-Raketen ausharren müssen.
Vor allem die Anwesenheit von Smotrich rief Unmut hervor. Wegen dessen ideologischer Nähe zum rassistischen Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir; aber auch weil Smotrich zu den Initiatoren des Nationalstaatsgesetzes von 2018 gehörte. Eines der Grundgesetze, das Israel als den »Nationalstaat des jüdischen Volkes« definiert und das laut Kritikern einen Keil zwischen jüdische Israelis und nichtjüdische Minderheiten treibe. Gerade die Drusen haben dieses Gesetz von Anfang an abgelehnt und bekämpft. Sie befürchteten, es mache sie zu »Bürgern zweiter Klasse« und verwehre ihnen die Selbstbestimmung.
Netanjahu von wütendem Protest empfangen
Als am Montag schließlich Ministerpräsident Benjamin Netanjahu kam, empfing ihn wütender Protest. An den für seinen Besuch errichteten Absperrungen standen Dutzende Menschen und forderten auf Hebräisch seine Abreise. Netanjahu ignorierte den Aufruhr, stattdessen beschwor er Israels »harte Antwort«, die dem Angriff auf Majdal Shams folgen werde.
Auch in friedlicheren Zeiten ist das Verhältnis zwischen Israel und den Drusen auf dem Golan ambivalent und nicht konfliktfrei.
Auch in friedlicheren Zeiten ist das Verhältnis zwischen Israel und den Drusen auf dem Golan ambivalent und nicht konfliktfrei – so kam es im Sommer 2023 zu Verletzten bei Protesten der Drusen gegen den geplanten Bau von Windkraftanlagen. Und anders als ihre Glaubensbrüder und -schwestern in Galiläa, auf dem Karmelgebirge oder in Haifa, die ihr Schicksal unmittelbar nach 1948 eng mit dem von Israel verknüpften und in der Armee dienen, haben sie sich geweigert, die israelische Staatsbürgerschaft anzunehmen, als der Golan im Sechstagekrieg von 1967 erobert und 1981 schließlich annektiert wurde.
Die rund 20.000 Drusen auf dem Golan wollten die syrische Staatsangehörigkeit behalten – zu groß war die Angst vor Repressalien durch das Assad-Regime im Falle einer Rückgabe. Durch den Ausbruch des Bürgerkriegs im Nachbarland, das mit 600.000 bis 700.000 Drusen Heimat der größten drusischen Community weltweit ist, bröckelt diese Haltung allmählich. Mehr als 200 Drusen auf dem Golan beantragen inzwischen jährlich die israelische Staatsbürgerschaft. Laut Innenministerium sind dort mittlerweile 4300 Drusen im Besitz eines blauen Passes, also mehr als 20 Prozent.
Revision des Nationalstaatsgesetzes gefordert
Der Raketenangriff der Hisbollah vom Samstag könnte diesen Trend verstärken – schließlich ist Syrien ein enger Verbündeter der iranischen Führung und Transitland für genau die Waffen der Hisbollah, von denen eine nun Majdal Shams getroffen hat. Doch auch Israel muss sein Verhältnis zu den Drusen auf dem Golan ändern. Ein erster Schritt wäre eine Revision des Nationalstaatsgesetzes. Genau das fordert nun mit Verweis auf die Ereignisse vom Samstag die links-zionistische Partei Die Demokraten: »Die israelische Regierung kann das gemeinsame Schicksal mit unseren drusischen, tscherkessischen und beduinischen Brüdern und Schwestern sowie mit allen Bürgern des Landes nicht länger ignorieren«, heißt es.
Doch zuallererst muss etwas anderes gewährleistet werden. Und das ist eine Verbesserung der Sicherheit im Norden, auch für die Drusen auf dem Golan.