Sie halten einander an den Händen, drehen sich im Kreis. Dutzende Frauen und Männer, manche in wallenden Gewändern, andere in Jeans und T-Shirt, tanzen gemeinsam, lächeln gen Himmel. Doch nicht im indischen Poona, sondern am Kikar Rabin im Herzen von Tel Aviv. Es ist keine Esoterikmesse, sondern der Auftakt zum erneuten sozialen Aufbegehren. Um die 5.000 Israelis versammelten sich am vorletzten Samstag auf dem zentralen Platz der Stadt, um den Protesten, die das Land 2011 aufgerüttelt hatten, wieder Leben einzuhauchen.
Doch wirklich bewegende Worte hört man an diesem Abend kaum. Die Veranstaltung ist wenig mehr als ein müder Abklatsch des vergangenen Sommers. Keine eindringlichen Rufe, dass man sich die Ungerechtigkeiten nicht mehr gefallen lassen will. Stattdessen immer wieder Aufforderungen, doch bitte alle politischen Schilder herunterzunehmen. »Das hier ist eine Demonstration der Solidarität und keine politische«, erklärt eine höchstens 20-Jährige auf der Bühne wie eine Oberlehrerin. Man könne sich ja solidarisch erklären, um die Regierung endlich zu stürzen, schlägt einer vor, der ein Schild mit der Aufschrift »Netanjahu go home« schwenkt.
Die Demonstranten waren aus verschiedenen Stadtteilen losmarschiert und hatten sich auf dem Rabinplatz zur Abschlusskundgebung getroffen. Mindestens 30 verschiedene Gruppen, deren Programme nicht immer ganz durchsichtig waren, gaben sich namentlich zu erkennen, von den Social Guards über New-Israel bis zu Social Darma und der Venus-Bewegung. Manche der vornehmlich jungen Leute trugen Plakate mit der Aufschrift »Hebräischer Frühling«, in Anlehnung an die Aufstände in den Nachbarländern.
zukunft In Jerusalem, wo sich einige Hundert versammelt haben, spricht Itzik Schmuli, Präsident der Nationalen Studentenvereinigung und einer der Anführer des letzten Sommers: »Wir sind hier, um für die Zukunft unseres Landes zu kämpfen.« Was die Regierung an Maßnahmen angeboten habe, sei lediglich Kosmetik und in keiner Weise zufriedenstellend. »Wir sind bereit, die Proteste in voller Kraft wiederaufleben zu lassen.«
Auch in Tel Aviv sind die Initiatoren von 2011 gekommen. Doch Daphni Leef und Staw Schapir spazieren über den Platz, als ob sie nicht recht wüssten, was sie hier eigentlich sollen. Die Organisatoren dieser Nacht achteten akribisch darauf, ausschließlich Newcomer zu Wort kommen zu lassen. Aber deren Reden wirken blutleer, kommen vom Blatt statt aus dem Bauch. Nichts klingt wie in den Nächten im Juli und August, als Leef auf der Bühne stand und mit zitternder Stimme ins Mikro brüllte, dass ihr Vermieter die Miete zum x-ten Mal erhöht habe und sie einfach nicht mehr wisse, wie sie sie noch bezahlen soll.
Damals hatten junge Leute eine Bewegung gestartet, die Israel zuvor noch nicht gesehen hatte. Ihr Ruf »Zedek Chewrati« (soziale Gerechtigkeit) hallte bei Massendemos durch die Städte, wurde zum Schlachtruf des gesamten Landes. Premierminister Benjamin Netanjahu rief anschließend ein Komitee ins Leben, das unter Leitung des Wirtschaftsexperten Manuel Trajtenberg Lösungen ausarbeiten sollte, um die finanzielle Last der Menschen zu schmälern.
»Komitee, Schmomitee«, ruft Mischa Cohen wütend. »Netanjahu hätte einfach in den Supermarkt gehen müssen«, sagt der Student, der auf den Rabinplatz gekommen ist, um seinem Unmut Ausdruck zu verleihen. »Dann hätte er sofort gesehen, was hier unbezahlbar ist.« Das Komitee habe nichts gebracht außer einigen fadenscheinigen Verbesserungen, die von den wahren Problemen ablenken sollen, ist er überzeugt.
teuer Fast alle Produkte sind im vergangenen Jahr teurer statt billiger geworden. Mehrere Tageszeitungen vergleichen seit Monaten auf ihren Wirtschaftsseiten israelische Preise mit denen in anderen Ländern. Ein neuer Tag, ein neues Produkt. Es sind keine besonders abseitigen Waren, sie reichen quer durch das Sortiment, von Joghurt über Rasierklingen bis zu Spielzeug und Neuwagen. Tag für Tag zeigen die Diagramme bei Israel den höchsten Balken.
Und so siegte nach den Sommerferien 2011 die normative Kraft des Faktischen. »Wir müssen das Leben ja bezahlen«, erklärt Lior Saporower. Die Menschen setzten sich also wieder in ihre überteuerten Autos, brachten ihre Kinder in die Krippen mit den horrenden Gebühren und fuhren in ihre Büros, um am Ende des Monats ein lächerliches Gehalt zu sehen.
Saporower weiß, wie hart der israelische Alltag ist. Den Werbefachmann hat es an diesem Abend auf die Straße gezogen, weil er so nicht mehr weitermachen will und sozialen Wandel fordert. Auch wenn dieser Auftakt noch etwas diffus wirkt, ist er sicher: »Es wird im Sommer wieder richtig losgehen, weil es einfach nicht anders geht.« Warum nicht? »Weil das Leben der meisten Israelis gänzlich auf dem Dispokredit bei der Bank beruht, und das muss irgendwann explodieren.« Auch in Israel, ist er sicher, werde es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommen, wie in Spanien oder Griechenland. »Nett geredet haben wir lange genug«, meint er. »Diese Ausbeuter in der Regierung müssen endlich merken, dass sie ihr Volk nicht endlos ausbluten lassen können, ohne dass es aufbegehrt.« Bislang ist davon allerdings noch wenig zu sehen – am Folgewochenende blieb der Rabinplatz leer.