Kibbuz Beʼeri

Zuflucht am Toten Meer

»Willkommen im Kibbuz Be’eri«, steht auf dem Schild. Doch dies ist keine von Wiesen und Feldern umgebene Anlage, wie man es von Kibbuzim in Israel kennt, sondern das Hotel David am Toten Meer. Man könnte es wohl als Bettenburg bezeichnen. Am Eingang steht ein dickes rotes Herz aus Pappmaschee. Normalerweise sollen die Gäste lesen: »I love the Dead Sea.« Doch jetzt ist neben dem Herz ein Plakat aufgestellt: »Kibbuz Be’eri – das Hotel David umarmt euch.« Die ursprüngliche Ansiedlung in der westlichen Negevwüste ist zerstört.

900 Mitglieder des Kibbuz Be’eri wohnen in diesen Hotelzimmern, rund 100 weitere sind zu ihren Familien in andere Orte im Land gezogen, andere leben in Hotels in Tel Aviv. Doch die große Gruppe ist hier als Gemeinschaft untergebracht. »Der Zusammenhalt ist für uns lebenswichtig. Wir haben klargemacht, dass wir nur als Gemeinde irgendwo hingehen«, sagt Kibbuz-Sprecher Alon Pauker. Der 57-Jährige, seine Frau und ihre drei Kinder »waren dabei, als es geschah«. Mit »es« meinen sie das Massaker der Hamas am 7. Oktober.

Über eine Treppe geht es in einen Aufenthaltsbereich mit Café. Rechts von der Bar ist die Kleiderkammer, links die psychologische Beratungsstelle. Geht man weiter geradeaus, erreicht man eine Arztpraxis, die hier die Menschen betreut, ohne dass sie das Hotel verlassen müssen. Im Sitzbereich stehen Bilder auf Staffeleien, der Bereich für Kunsttherapie. Jemand hat einen Mann gemalt, dessen Hände sich voller Verzweiflung gen Himmel recken. In seinem Innern brennt es lichterloh – als gebe es kein Entkommen vor dem Grauen. So, wie es für viele Bewohner von Be’eri keinen Ausweg aus dem Horror gab.

Mehr als 100 Einwohner wurden ermordet oder gekidnappt

Mehr als 100 Einwohner des »Paradieses«, wie die Kibbuzniks Be’eri beschreiben, wurden ermordet oder gekidnappt. Pauker schüttelt langsam den Kopf, so, als könne er immer noch nicht begreifen, was geschehen ist. »Zehn Prozent unserer Gemeinschaft sind nicht mehr mit uns.«

Es habe mit »den Sirenen« begonnen. »Dann kamen die Terroristen, die mordeten und entführten. Sie steckten die Häuser der Menschen in Brand und töteten sie, als sie versuchten, dem Feuer und Rauch zu entkommen. Sie plünderten, stahlen und zerstörten, was sie konnten.«

»Die Regierung lässt sich mit der ›Soforthilfe‹ viel Zeit, aber die zivile Gesellschaft half sofort.«

Kibbuz-Sprecher Alon Pauker

Eigentlich sei er Geschichtsdozent am Beit Berl College und bildet Lehrer aus, erzählt Pauker. »Doch nach dem schrecklichen Geschehen war mir klar, ich muss unsere Geschichte erzählen. Die Welt muss verstehen: Hamas ist der Islamische Staat. Sie sind wie eine Zweigstelle davon oder eine Mischung von IS und den Nazis. Und niemand, egal wo, würde sich bereit erklären, in einer Gegend zu wohnen, die an ein Territorium angrenzt, das von solchen Terroristen kontrolliert wird.«

Um die Hamas zu zerstören, müsse es »einen starken Krieg« geben. Dass dabei auch Unschuldige getötet werden, tue ihm aus tiefstem Herzen leid, beteuert Pauker. »Ich bin ein Mann des Friedens. Ich habe viele palästinensische Freunde. Und wir müssen definitiv mehr unternehmen, um das palästinensische Problem zu lösen. Doch dafür darf es keine Hamas mehr in der Welt geben. Nach dem, was sie getan haben, gehören sie nicht mehr zur menschlichen Gemeinschaft.«

Pauker zeigt auf die vielen Hosen, Röcke, Hemden und Schuhe, die am Ende des Raumes auf Ständern als eine Art Kleiderkammer dienen. Hier kann sich jeder bedienen. »Alles gespendet«, sagt er und zupft an seinem T-Shirt. »Wir hatten ja nur noch die Kleidung, die wir gerade trugen, als wir hier ankamen.« Während sich die Regierung mit der »Soforthilfe« viel Zeit lasse, sei die zivile Gesellschaft sofort in Aktion gewesen, »die israelische Bevölkerung ist fantastisch«.

Die Gemeinschaft Be’eris ist untereinander eng verbunden. Im Kibbuz haben die Bewohner gemeinsam im Cheder Ochel, dem Speisesaal, ihre Mahlzeiten eingenommen. Das tun sie nun auch im Hotel. Ab zwölf Uhr mittags trudeln die ersten Frauen und Männer mit ihren Kindern im Essensbereich des Hotels ein.

Holocaust-Überlebender und Kriegsgefangener

In der Lobby sitzt Eli Carasanti auf einem Rattansofa. Er hat den Holocaust überlebt, war Kriegsgefangener in Ägypten und überstand die grauenvolle Attacke der Hamas. Der 92-Jährige verlor dabei seine Tochter und seinen Schwiegersohn, die Terroristen ermordeten beide.

Aber eines hat Eli Carasanti nicht verloren: seine Menschlichkeit. Als sich seine Betreuerin, eine junge Frau aus Sri Lanka, etwas scheu aus dem Foto stehlen möchte, zieht er sie sanft am Arm zurück. So, als wolle er sagen: Sie war für ihn da in der Not, sie gehört an seine Seite.

In der Nähe des Essensbereichs ist eine Gedenktafel mit den Namen der Ermordeten aufgestellt, daneben Plakate der Entführten, umgeben von roten Rosen. Auch die Namen seiner Tochter und ihres Mannes stehen auf der Tafel. Ebenso wie die der Eltern von Michal Pinyan: Amir und Mati Weiss, beide 69. Sie wollten ihren 70. Geburtstag mit einer Reise nach Neuseeland feiern.

Während sich die Pinyans, Michal, ihr Mann und die drei Kinder im Alter von neun bis 13 Jahren in ihrem Sicherheitsraum verschanzt hatten, erhielten sie Nachrichten von den Eltern. Jede neue Message war grauenvoller als die vorherige. »Sie sind im Haus.« »Sie haben die Tür zum Schutzraum gesprengt.« »Papa ist angeschossen.« Pinyan und ihre drei Brüder, die alle im Kibbuz lebten, schrieben mit den Eltern hin und her. Hysterische Nachrichten. Dann Stille. »Mama, schreib doch!«, flehte die Tochter. Doch ihre Mutter antwortete nicht mehr. Am nächsten Tag fand man Mati und Amir Weiss in der Nähe des Eingangs zum Kibbuz. Die Hände auf dem Rücken gefesselt, mit Kopfschüssen ermordet.

»Sie haben es nicht verdient, so zu sterben. Sie waren wundervolle Eltern.« Michals jüngster Bruder hätte am 30. Oktober heiraten sollen, »wir waren alle so glücklich für ihn«. Natürlich werde er jetzt die Hochzeit absagen, sagte er zu seiner Schwester nach der Tragödie. »Zunächst waren wir einer Meinung. Doch dann ging ich zu ihm und sagte: ›Aba und Ima hätten gewollt, dass ihr heiratet und unser Leben weitergeht.‹ Und so traten sie nach dem Ende der Schiwa unter die Chuppe.«

Es sei unendlich traurig gewesen, aber es gab auch einen Lichtblick: »Wir feierten zusammen einen Neuanfang.« Dabei habe es unendlich viele Umarmungen gegeben, erinnert sich Pinyan. »Umarmungen sind unser Heilmittel.«

Kindergärten und Krippen

Davon ist auch Inbal Bachar überzeugt. Die Kindergärtnerin betreibt mit Freiwilligen der gemeinnützigen Organisation »Dror« einen der fünf Kindergärten und Krippen im Hotel, manche sind in Zimmern eingerichtet, einer ist neben einer Bar, ein anderer im Zelt im Garten. »Es ist extrem wichtig, dass die Kleinsten unter uns ihre Routine haben.«

Doch nicht alle ursprünglichen Mitarbeiterinnen können schon wieder arbeiten. »Viele sind zutiefst traumatisiert.« Denn eine Kollegin, Dana Bachar, wurde von den Terroristen ermordet. Sie war die Cousine von Inbals Mann. »Alle haben sie geliebt, weil sie die netteste und geduldigste Person dieser Welt war. Wir vermissen sie so sehr. Manche sagen, Gott hat sie genommen, damit sie auf die toten Kinder im Himmel aufpasst.«

»Es gibt unendlich viele Umarmungen. Sie sind unser Heilmittel.«

Michal Pinyan

Hinter dem Hotel sitzen zwei Männer auf einer Bank, rauchen eine Zigarette und schauen auf das Tote Meer. »Weißt du, ob du zurückgehst?«, fragt der Ältere und fügt hinzu, dass er sich nicht darüber im Klaren sei. »Ich weiß es auch nicht. Ich warte erst das Ende des Krieges ab«, meint der Jüngere. »Sie sagen, sie machen die Hamas fertig. Aber sie werden das nicht schaffen. Vielleicht verschwinden sie für zehn Jahre, dann tauchen sie wieder auf. Was ist das für eine Zukunft?«

So ungewiss die Zukunft, so eindeutig ist die Vergangenheit von Be’eri: Der Kibbuz wurde an Jom Kippur 1946 gegründet, noch vor der Ausrufung des Staates, um jüdische Familien im Land anzusiedeln. »Wir sind ein starker Kibbuz, aus sozialer und wirtschaftlicher Sicht«, hebt Alon Pauker, der Kibbuz-Sprecher, hervor, und ein wenig Stolz schwingt in seiner Stimme mit.

Am Freitag vor dem Massaker habe man ein »sehr schönes Fest gefeiert, um die Gründung zu begehen. Und dann wachten wir im totalen Horror auf«. Auch Pauker weiß nicht, was kommt. Nach zwei Monaten im Hotel könnten sie vielleicht in Übergangsunterkünfte ziehen, wurde ihnen mitgeteilt. »In den nächsten Wochen werden wir über die Zukunft reden müssen.« Doch eines sei völlig klar, nicht nur für ihn, sondern für die Mehrheit der Mitglieder: »Wir bauen unser historisches Zuhause wieder auf.«

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