Justizreform

Zerbrechliche Demokratie

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Nach einer längeren Parlamentspause tagt die Knesset wieder. Kurz zuvor hatte Israel seinen 75. Unabhängigkeitstag gefeiert. Doch von Einigkeit kann keine Rede sein. Der kleine Nahoststaat ist zerrissen wie nie zuvor. Es geht um die kontroverse Justizreform, geplant von der rechts-religiösen Koalition in Jerusalem.

Für die suchen Opposition und Koalition unter der Ägide von Präsident Isaac Herzog momentan nach einem Kompromiss. Bislang sind keine Details zu den Verhandlungen an die Öffentlichkeit gelangt. Am Montag allerdings ließ Benny Gantz, Vorsitzender der Oppositionspartei Nationale Einheit, wissen, dass es keine Fortschritte bei den Gesprächen gebe.

regierungsgegner Seit 17 Wochen gehen jeden Samstagabend Regierungsgegner auf die Straßen. Sie argumentieren, die »Reform« sei keine Verbesserung, sondern eine Schwächung der Demokratie und ein Schritt auf dem Weg Israels in die Diktatur. Ganz anders sehen es die Befürworter, die am Donnerstag zum ersten Mal in Massen demons­trierten und meinen, die Reform sei dringend nötig.

Während sich die Zahlen der jeweiligen Protestkundgebungen ähnelten – die Polizei sprach von ungefähr 150.000 bis 200.000 Menschen –, könnten die Meinungen kaum unterschiedlicher sein.

Ginge es nach den Wünschen des Justizministers Yariv Levin, würde das Gleichgewicht von Judikative und Legislative ausgehebelt.

Die geplante Umstrukturierung des Rechtssystems wurde nach Monaten der größten Straßenproteste, die es je in Israel gab, und einem Generalstreik für die Konsensfindung unterbrochen. Während die Regierung argumentiert, dass die Änderungen notwendig seien, um aktivistische Richter zu zügeln und das Gleichgewicht zwischen Parlament und Gerichten wiederherzustellen, warnen Kritiker, dass es »die einzig echte Demokratie in Nahost« dann nur noch auf dem Papier gebe.

Gleichgewicht Ginge es nach den Wünschen des Justizministers Yariv Levin, würde das Gleichgewicht von Judikative und Legislative ausgehebelt. Die Regierung erhielte volle Kontrolle über Richterbesetzungen. Eine weitere Klausel besagt, dass der Oberste Gerichtshof nicht befugt sein werde, Grundgesetze aufzuheben oder Änderungen durchzusetzen. Gleichzeitig wäre es der Regierungskoalition möglich, Urteile des Gerichtshofes mit knapper Mehrheit zu überstimmen.

Israels Demokratie ist zerbrechlich, weil es außer dem Obersten Gerichtshof, der quasi entmachtet werden soll, keine Kontrollmechanismen gibt. Es existiert weder eine schriftliche Verfassung noch ein Zweikammernsystem. Alle Grundrechte, wie Presse- oder Demonstrationsfreiheit beispielsweise, wurden vom Obersten Gerichtshof eingeführt. Regelmäßige Parlamentswahlen als einziges Merkmal reichen nicht aus, um als »wahre Demokratie« definiert zu sein. Gantz ist sicher: »Diese neue Gesetzgebung demontiert das System und errichtet an seiner Stelle eine Tyrannei der Mehrheit. Doch das ist keine Demokratie.«

Yariv Levin vom Likud, der Initiator der geplanten Gesetzgebungen, hatte auf der Pro-Regierungsdemonstration den Obersten Gerichtshof scharf kritisiert. Er beschuldigte die Richter, die Täter anstatt die Opfer zu schützen. »Israel braucht ein Gericht, das Vergewaltiger bestraft und nicht nach Wegen sucht, sie zu schützen. Ein Gericht, das Soldaten schützt und nicht die Nachbarn der Terroristen«, so Levin. Woraufhin die Demonstranten skandierten: »Wir wollen keinen Kompromiss.«

Konsens Gantz verurteilte Levins Äußerungen scharf und sagte, sie stellten das Engagement der Koalition infrage, einen Konsens zu erzielen. Er beschuldigte Levin auch der »Aufwiegelung und Lügen«. Währenddessen versuchte Premierminister Benjamin Netanjahu am Wochenbeginn zu beschwichtigen und unterstrich seine Unterstützung für die Verhandlungen.

Beim Besuch des Sprechers des Repräsentantenhauses der Vereinigten Staaten, Kevin McCarthy, sagte Netanjahu: »Meine Kollegen und ich sind entschlossen, weitgehende Einigungen bei der Justizreform zu erzielen, die im Mittelpunkt der öffentlichen Kontroverse in Israel steht.« Die meisten Israelis würden verstehen, dass das Justizsystem geändert werden müsse, um das richtige Gleichgewicht zwischen den Behörden wiederherzustellen.

Auch nach der Parlamentspause ist von Einigkeit keine Rede. Israel ist zerrissen wie nie zuvor.

Wenig Zuversicht diesbezüglich äußern indes die Organisatoren der Demokratiebewegung. »Die Maske ist ab, Israel steht am Rande einer Diktatur«, hieß es in einer Erklärung. Am Donnerstag werde es einen weiteren Protesttag an über 150 Orten im ganzen Land geben. »Nur eine Abstimmung trennt Israel von einer gefährlichen messianischen Diktatur.« Die sogenannten Kompromissgespräche in der Residenz des Präsidenten seien ein Betrug.

Bei der Protestkundgebung am Samstagabend in Tel Aviv gehörten unter anderem der spanische Premierminister und ein ehemaliger Oberster Richter zu den Rednern. Pedro Sánchez, Spaniens Premier, ist auch Vorsitzender der Sozialistischen Internationale, einer weltweiten Organisation von 132 politischen Parteien. Er sagte per Videoübertragung: »Wir als Sozialistische Internationale haben immer für Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Demokratie gekämpft. Doch wie viele von Ihnen wissen, können wir diese Werte nicht als selbstverständlich ansehen.« An diesen Ausführungen nahm der israelische Außenminister Eli Cohen Anstoß.

»Für die Gegner der Reformen scheint es keine Tabus zu geben, einschließlich des Versuchs, unserem internationalen Ruf zu schaden«, schrieb er auf Twitter. »Keine ausländische Institution wird für die israelische Öffentlichkeit entscheiden, und ich bin sicher, dass Sánchez dies auch nicht beabsichtigte.«

Grenze Der frühere Richter des Obersten Gerichtshofs, Yoram Danziger, verurteilte, dass Demonstranten bei der Pro-Regierungskundgebung auf Fotos von Richtern des Obersten Gerichtshofs herumtrampelten. »Solche Szenen gehören nicht nach Jerusalem, sondern nach Teheran.« Seiner Meinung nach hätten Politiker, die besonders den Hass auf Esther Hayut, die Präsidentin des Obersten Gerichtshofs, schürten, jede Grenze überschritten.

Kurz vor den Massenprotesten hatte einer der erfolgreichsten Unternehmer des Landes, Amnon Shashua, Geschäftsführer von Mobileye, den Israel-Preis für sein Lebenswerk erhalten. Bei der Verleihung sagte er: »Wir müssen unsere Kräfte bündeln und die Krise unter strikter Einhaltung des Grundsatzes der Gewaltenteilung und unter Achtung aller staatlichen Institutionen lösen: der Legislative, der Exekutive und der Judikative. Damit wir nicht alles, was wir erreicht haben, verlieren. Wenn wir nicht wissen, wie das geht, dann helfen uns auch keine Wunder.«

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