»Früher hatte man nach einer Sirene 30 Sekunden Zeit, um in einen Schutzraum zu gelangen, aber seit der Flut von mehreren Raketen auf einmal sind es eher 20 Sekunden«, sagte mir der Sozialarbeiter des Beit Halperin Pflegeheims in Aschkelon, als wir vor wenigen Tagen zusammen mit Holocaust-Überlebenden und anderen gebrechlichen älteren Menschen in einem überfüllten Sicherheits-Raum standen, etwa 10 Kilometer von der Grenze zum Gazastreifen entfernt.
Sie sind bettlägerig oder sitzen in Rollstühlen und können nicht in 20 Sekunden in den Schutzraum gelangen. Seit dem Terrorangriff vom 7. Oktober ist dieser Sicherheitsraum, der 2017 mit einem Zuschuss der Claims Conference gebaut wurde, nun der einzige Ort für 36 alte Menschen, an dem sie ohne Angst essen, leben und schlafen können.
Unermesslicher Schmerz
Der Holocaust-Überlebende Yosef Winner erzählte zusammen mit seiner Frau und seinem Sohn vom Verlust zweier seiner Enkelkinder. Später las ich die herzzerreißenden Worte, die er geschrieben hatte: »Ich habe die Nazi-Bestien in den Konzentrationslagern überlebt. Meine gesamte Familie ist im schrecklichen Holocaust umgekommen. Ich löste mich von meinen tiefen Wurzeln und zu ihrem Gedenken errichtete ich ein Denkmal aus Basalt.«
»Aus den Tiefen der Verzweiflung habe ich mich mit Entschlossenheit und Widerstandskraft an die Erde geklammert und Samen in Zion ausgesät. Ich habe es vermocht, unseren Stammbaum im Land unserer Herkunft zu verwurzeln und er hat Früchte getragen. Doch plötzlich, am 7. Oktober 2023, traten aus den üblen Stacheldrähten die entsetzlichen Szenen von Feuer, Staub, Mord und dem schrecklichen Massaker an unschuldigem Leben auf und suchten mich einmal mehr heim. Mein liebster Enkel Yahav - möge sein Andenken gesegnet sein - wurde ermordet, während er seine Frau Shaylee und ihre einen Monat alte Tochter Shaya beschützte.«
»Und meine liebste Enkelin Hadar und ihr Mann Itay - möge auch ihr Andenken gesegnet sein - wurden abgeschlachtet, während sie ihre zehn Monate alten Zwillinge Roee und Guy verteidigten«, sagt Yosef Winner. »Wieder einmal bin ich erschöpft, verzweifelt, am Versinken. Und ich habe kein Land mehr, an dem ich mich festhalten kann.«
Ashkelon im Fadenkreuz des Raketenkriegs der Hamas
Nachdem wir über einen Raketensplitter gestolpert waren, konnten wir vom Dach des Gebäudes aus Gaza in der Ferne sehen. Wir blickten hinüber zum Meer - nur wenige Gehminuten entfernt. Einst war der Strand ein Ort der Freude und des Vergnügens für Familien. Am 7. Oktober war er ein weiteres Einfallstor für Terroristen, die versuchten, alles anzugreifen, was vor ihnen lag.
Am Eingang der Stadt hing ein großes Plakat von Alex Lubnov aus Aschkelon. Er ist Vater eines zweijährigen Kindes und eines Babys, das bald geboren werden wird. Alex Lubnov war als Barkeeper bei der Supernova-Party. Jetzt ist er eine der Geiseln in Gaza.
»Es ist ein bisschen wie Tetris«
Inmitten des Schmerzes gab es auch einen Hauch von Humor. Der Sozialarbeiter des Pflegeheims beschrieb die Herausforderung, eine Gruppe alter Menschen mit ihren Betten und Rollstühlen in einem Schutzraum unterzubringen so: »Es ist ein bisschen wie Tetris.«
Unser kurzes Mittagessen in einem nahegelegenen Restaurant wurde von einer Sirene unterbrochen. In den vorgesehenen 20-30 Sekunden rannten wir zu einem Luftschutzbunker, und als wir am Fuß der Treppe ankamen, hörten wir, wie das Raketenabwehrsystem Iron Dome die ankommende Rakete zerstörte. Zehn Minuten später kehrten wir ins Restaurant zurück, um unsere Mahlzeit zu beenden.
Die anderen Gäste, einige von ihnen in Armeeuniformen, andere Familien mit Kindern, setzten ihre Aktivitäten fort als wäre alles normal. Aber das Leben in Aschkelon ist nicht normal. Der Leiter des Pflegeheims sagte, dass seit dem 7. Oktober vom Gazastreifen aus 1200 Raketen allein auf Aschkelon abgefeuert wurden. Keine andere israelische Stadt verzeichnet mehr Raketen. Vor wenigen Wochen landete eine Rakete auf dem Parkplatz des Pflegeheims, explodierte aber glücklicherweise nicht.
Widerstandskraft der Schoa-Überlebenden
Wir haben Schmerz und Angst gesehen, aber auch die unglaubliche Stärke der Holocaust-Überlebenden. Einige von ihnen besuchten wir in ihren Häusern. Avraham Goldhaber, geboren 1936 in Chortkiv, das heute in der Ukraine liegt, erzählte uns, wie er einen Großteil seiner Familie im Holocaust verlor und als kleiner Junge ein Jahr lang unter dem Dach eines Kuhstalls versteckt wurde.
Dann beschrieb er, wie er in den letzten fünf Wochen mit dem ständigen Raketenbeschuss in Aschkelon zurechtkam, während er uns voller Stolz seinen Sicherheitsraum zeigte. Schmerz und Widerstandskraft waren eng verwoben in einem einzigen Gespräch.
Die Schoa-Überlebenden zeigten während der entscheidenden Kampagne, die Hamas zu besiegen und die Geiseln nach Hause zu bringen, auch Mitgefühl für das Leid der Menschen im Gazastreifen.
Israel ist traumatisiert. Dies gilt umso mehr für die Überlebenden des Holocaust, die in einem Land leben, das sich erneut mit dem unermesslichen Verlust, der Frage, wie es dazu kommen konnte, und der Frage, was die Zukunft bringt, auseinandersetzen muss.
Lebensmittelpakete und andere Hilfsgüter
Unmittelbar nach dem Anschlag am 7. Oktober begannen die Mitarbeiter der Claims Conference, Überlebende im Süden anzurufen. In Israel gibt es etwa 120.000 Überlebende des Holocaust. Etwa 5000 leben in der Nähe des Gazastreifens, und die Mitarbeiter haben sie regelmäßig angerufen. Für diejenigen, die Hilfe benötigen - etwa ein Drittel von ihnen - werden von unseren Partnern rasch Lebensmittelpakete und andere Hilfsgüter geliefert.
Vielleicht ebenso wichtig wie diese Hilfe ist die Aufrechterhaltung der Verbindung mit ihnen in einer Zeit der Angst und Isolation. Wie ein Überlebender sagte, »rufen Sie bitte weiter an, auch wenn Sie keine Lebensmittel zu liefern haben.«
Hotels, die vielen von uns von Besuchen in Israel bekannt sind, sind jetzt mit Evakuierten aus den Grenzgebieten im Süden und Norden überfüllt. Über 1800 Überlebende wurden evakuiert, viele von ihnen sind in diesen Hotels untergebracht. Sie sind ein willkommener Ort der Sicherheit, aber, wie einer der unfreiwilligen Gäste sagte: »Alles, was ich will ist, in mein eigenes Haus zurückzukehren, in meine eigene Küche zu gehen und mir selbst eine Tasse Tee zu machen. Wann wird das wieder möglich sein? Niemand weiß es.«
Ich hörte Geschichten über die Schoa, die sich mit Geschichten über die schrecklichen Anschläge vom 7. Oktober vermischten. An unserem Treffen nahmen auch die Leiter einiger der wichtigsten Einrichtungen für Holocaust-Erziehung teil. Viele von ihnen engagieren sich für die Vertriebenen aus dem Norden und Süden.
Sie beschäftigen sich nicht nur mit dem persönlichen Verlust von Freunden und Familienangehörigen, Kindern in der Armee und Geiseln, sondern denken auch darüber nach, was all dies für die Zukunft der Holocaust-Erziehung bedeuten wird. In Anlehnung an die Dokumentation der Schoa, gibt es jetzt auch Pläne, Zeugnisse über die Geschehnisse an jenem schrecklichen Schabbat festzuhalten, damit künftige Generationen davon erfahren.
Enge Bande zwischen Israelis und Juden in der Diaspora
Wir waren gekommen, um zuzuhören und zu lernen und um zu sehen, wie wir in den kommenden Tagen, Wochen und Monaten in Israel helfen können. Doch inmitten all der Probleme, mit denen das Land zu kämpfen hat, wollten die Israelis von uns aus der Diaspora wissen, wie es um die wachsende Flut des Antisemitismus in den Vereinigten Staaten und in der ganzen Welt steht.
In einer Zeit, in der einige von uns ein Auseinanderdriften von Israel und der Diaspora befürchten, fließt die Sorge in beide Richtungen, und in diesem schrecklichen Moment werden die Bande, die uns verbinden, noch enger.
Als wir von unserem Treffen in Yad Vashem zurückkamen, war der Bereich vor dem Gebäude mit herumtollenden Kindern bevölkert. Das Museum ist geschlossen, aber das Bildungsgebäude beherbergt heute eine Schule für Kinder, die aus den Grenzgebieten im Norden und Süden evakuiert wurden, wobei Mitarbeiter von Yad Vashem vorübergehend als Lehrer fungieren.
An einem Ort, der zum Gedenken an die Opfer der Schoa geschaffen wurde, war das Lachen der Kinder, die im Sonnenlicht spielten, vielleicht ein Vorbote dafür, dass in diesen schweren, dunklen Tagen aus der Asche eine hellere, bessere Zeit hervorgehen wird.
Über den Autor: Gideon Taylor ist Präsident der Conference on Jewish Material Claims Against Germany und der World Jewish Restitution