Tel Aviv

»Wir sitzen auf der Treppe und können nirgendwo hin«

»Wir sitzen noch immer stumm auf der Treppe. Binnen kürzester Zeit schicken die Mullahs mehr als 150 Geschosse auf unser Land.« Foto: Sabine Brandes

In der einen Hand halte ich die Sonnenblumen und die Einkaufstaschen, in der anderen den Hausschlüssel. Das Telefon klingelt. Drei verpasste Anrufe, zig Nachrichten von Familie und Freunden sehe ich auf dem Bildschirm. Ich gehe ran. Es ist mein Chefredakteur aus Berlin. »Alles in Ordnung?«, fragt er. »Eigentlich schon …«, sage ich zögerlich und wundere mich ein wenig.

Etwas mehr als eine Stunde lang war ich einkaufen, ohne auf mein Telefon zu schauen. Etwas mehr als eine Stunde Normalität. Eden, meine kleine Tochter, wollte Stoffe aussuchen, um sich etwas zu nähen. Es ist eines ihrer Hobbys. Wir laufen von Geschäft zu Geschäft, erzählen, lachen. Auf dem Rückweg kaufen wir ein Eis. Mein Herz hüpft vor Freude über die Momente der Unbeschwertheit. Sie sind selten geworden hier in Israel.

Einige Stunden vorher musste ich Eden aus der Schule abholen. Sie ist zehn und fährt normalerweise zusammen mit ihrer Freundin mit dem Fahrrad nach Hause. Doch heute stehe ich um kurz vor zwei vor dem Schultor. Die Hisbollah aus dem Libanon hat Raketen auf das Zentrum geschossen. Natürlich lasse ich sie nicht allein fahren.

»Was ist los, Mami?«, ruft sie mir zu, und ihr weiches Kindergesicht wird ganz ernst. Die Geste erkennt sie sofort. Es ist eine Mischung zwischen Schulterzucken und Kopfschütteln. Wir machen sie alle. Unbewusst. Meine Kinder sind längst geeicht.

Seit einem Jahr werden sie nachts von Sirenen geweckt, hasten in Schutzräume, müssen sich – in Ermangelung eines persönlichen Schutzraumes – auf die Treppe in unserem Haus kauern, den Kopf auf den Knien und die Hände schützend darüber gefaltet, während der Alarm in unsere Ohren schreit.  

Galgenhumor gehört in Israel zur Überlebensstrategie. Sonst kommen wir nicht mehr durch den Alltag, drehen durch

Eine Stunde – und die Nachrichten überschlagen sich. In Israel ist das Teil unseres Alltags geworden. Mein Chef überbringt mir die Nachricht, dass uns der Iran angreifen will. Heute. Ich muss fast lachen, wie ich so dastehe, mit meinen Sonnenblumen in der Hand.

»Dana, kannst du die ins Wasser stellen?«, rufe ich meiner großen Tochter zu. »Ich muss arbeiten, der Iran will uns beschießen.« Der Galgenhumor gehört in Israel zur Überlebensstrategie. Sonst kommen wir nicht mehr durch den Alltag, drehen durch. »Ah«, sagt sie und zieht die Augenbrauen hoch.

Ich klappe mein Laptop auf, während meine Kinder die Taschen für den öffentlichen Bunker packen. Wasser, ein paar Nüsse und Äpfel, Aufladekabel. Der Sicherheitsraum ist knapp zwei Minuten zu Fuß entfernt. Bei Raketenalarm haben wir eineinhalb Minuten Zeit, um ihn zu erreichen. Wenn wir rennen. Bei den Raketen der Hamas haben wir immer auf der Treppe gesessen, es ist der sicherste Raum im Haus. Das gesamte Arsenal des Iran aber will ich ganz sicher nicht hier aussitzen.

Während ich schreibe, kommt Dana ins Zimmer. »Anweisung für den gesamten Gusch Dan, sich in der Nähe eines Schutzraumes aufzuhalten«, sagt sie zu mir, das Handy in der Hand. »Man darf nicht mehr rausgehen.« Sie ist blass. Zu Gusch Dan gehören auch wir hier in Tel Aviv.

Eineinhalb Minuten sind einfach zu kurz, um sich in Sicherheit zu bringen

Und dann geht es ganz schnell. Zwei, drei Minuten später schrillt die erste Warnsirene los. »In den Sicherheitsraum begeben«, heißt es knapp von der App des Heimatfront-Kommandos der Armee, Pikud Ha’Oref. Wenn die Sirene losgeht, haben wir auch jetzt angeblich nur eineinhalb Minuten Zeit, um uns ich Sicherheit zu bringen.

Wir schaffen es nicht in den Bunker. Also wieder auf die Treppe. Wie unzählige Male zuvor. Bei Angriffen der Hamas, bei den Angriffen der Hisbollah aus dem Libanon. Und auch jetzt. Eineinhalb Minuten sind einfach zu kurz, um sich in Sicherheit zu bringen.

Wir diskutieren, wie viel Zeit wir denn nun haben sollten, bis die Raketen aus dem Iran bei uns eintreffen. Können wir nicht doch los? Dann schauen wir uns an und verstummen. Wir sitzen auf der Treppe und können nirgendwo hin. Als der Iran Israel das letzte Mal angegriffen hat, im April, war ich mit meinen Kindern in den USA in Urlaub. Mein Mann war zu Hause. Es gab keine einzige Sirene. Er verschlief den massiven Angriff.

Über unseren Köpfen wummert es. Das Haus wackelt. »Abgefangen«, sagen wir zueinander. Dann die nächste Sirene. Sie schrillt durch Mark und Bein. Meine kleine Tochter zittert. Ich nehme sie in den Arm. Sie weint.

Ein Jahr lang Ungewissheit, Sorge, Todesangst machen etwas mit einem. Besonders mit den Kindern. Seit fast zwölf langen Monaten sorgen wir uns permanent vor der nächsten Attacke, woher sie auch kommen mag, und versuchen doch, unser Leben so normal wie möglich zu leben. Gehen an den Strand, besuchen Freunde, machen eine Radtour.

Doch im Hinterkopf ist die Angst Dauergast. Ich bewege mich durch die Stadt und halte gleichzeitig immer Ausschau nach dem nächsten Schutzraum. Zähle Sekunden, die ich brauchen würde, um von irgendeinem Ort in den Bunker zu kommen.

Ein Jahr lang Ungewissheit, Sorge, Todesangst machen etwas mit einem. Besonders mit den Kindern

Dann die Nachricht, dass es einen Terroranschlag in Jaffa gegeben hat. An der U-Bahn-Station. Die Haltestelle ist zehn Minuten zu Fuß von hier entfernt. Mein Sohn fährt jeden Tag mit der U-Bahn zur Schule. Viele Schwerverletzte, einige davon in Lebensgefahr. Mein Kopf rast. Später werden wir erfahren, dass es mindestens sechs Tote gegeben hat.

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Wir sitzen noch immer stumm auf der Treppe. Binnen kürzester Zeit schicken die Mullahs mehr als 180 Geschosse auf unser Land. Pikud HaʼOref hat eine neue Nachricht geschickt: Die Menschen dürfen sich nicht aus ihren geschützten Räumen bewegen, bis es eine neue Ansage der Armee gibt.

Morgen ist Rosch Haschana. Eigentlich wollte ich nach dem grauenvollsten Jahr in der Geschichte Israels etwas Zuversichtliches für ein neues Jahr schreiben. Dass wir stark sind und hier unser Leben weiterleben. Dass wir Hoffnung haben, dass im neuen Jahr alles gut wird.

Ich sitze auf der Treppe und merke, wie mir Tränen über die Wangen rollen. Noch eine Sirene. Und mit jedem Angriff schrumpft meine Hoffnung, dass es tatsächlich das wird, was sich hier alle so sehnlich wünschen: Schana Towa …

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