Professor Sabel, der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) untersucht, ob wegen des Verdachts auf Kriegsverbrechen in Gaza Haftbefehle ausgestellt werden können. Israelischen Quellen zufolge gehe es dabei um Premier Benjamin Netanjahu, Verteidigungsminister Yoav Gallant und IDF-Stabschef Herzi Halevi. Was wertet der IStGH als Kriegsverbrechen?
Eine Liste in den Statuten des IStGH, die aus den Genfer Konventionen von 1949 abgeleitet ist, definiert Kriegsverbrechen. Dazu gehören vor allem das absichtliche Töten von Zivilisten oder Experimente an ihnen, das Töten von Kriegsgefangenen oder das Misshandeln von Verletzten sowie der Einsatz von Giftgas oder anderen chemischen Waffen. Der IStGH beschäftigt sich jedoch ausschließlich mit Kriegsverbrechen, die von führenden Befehlshabern und Regierungen in organisierter Weise begangen wurden, und nicht mit denen einzelner Soldaten. Nur dann würde man sich des Falles annehmen.
Präsident Herzog und Premier Netanjahu verurteilen die Untersuchungen des IStGH. Sie nennen sie politisch motiviert und israelfeindlich. Wie bewerten Sie diese Aussagen?
Wenn man sich anschaut, welche schrecklichen Verbrechen in der Welt geschehen, sollte Israel definitiv nicht an oberster Stelle der Liste des IStGH stehen. Israels Führung erlaubt keine Kriegsverbrechen. Es könnte einzelne Soldaten geben, die Verbrechen begehen, die dann aber in Israel untersucht werden.
Es wurden noch nie Haftbefehle gegen Israelis ausgestellt. Wie wahrscheinlich ist es, dass es jetzt dazu kommen wird?
Das ist schwer zu beantworten. Doch ich nehme an, dass der IStGH eher abgeneigt sein wird, Haftbefehle gegen israelische Offizielle auszustellen, wenn in naher Zukunft eine Vereinbarung zwischen Israel und der Hamas erreicht wird, die zu einem Waffenstillstand und zur Freilassung der Geiseln führt.
Und wenn es keinen Deal gibt?
Dann wäre es wahrscheinlicher. Der IStGH untersucht ebenfalls, ob die Hamas Kriegsverbrechen begangen hat. Meiner Meinung nach ist das Gericht bereits davon überzeugt, dass dies der Fall ist. Und wenn sie Haftbefehle gegen Hamas-Leute ausstellen, wollen sie der Welt zeigen, dass sie unparteiisch sind – also auch welche gegen Israelis erlassen. Das ist die Gefahr für uns.
Was ist der Unterschied zwischen dem Internationalen Gerichtshof (IGH) und dem Internationalen Strafgerichtshof?
Der IGH beschäftigt sich mit Disputen zwischen Staaten, die ihn anrufen können. Darüber hinaus berät er die Vereinten Nationen in juristischen Belangen. Der IStGH indes stellt Individuen wegen Kriegsverbrechen vor Gericht. Kriterien sind, dass der Fall von internationalem Interesse ist und die Taten in organisierter Weise stattgefunden haben. Darüber hinaus ist Voraussetzung, dass das involvierte Land nicht selbst gegen die betreffenden Personen ermittelt und sie auch nicht vor Gericht stellt.
Aber die israelische Armee ermittelt beim Verdacht auf Kriegsverbrechen selbst und stellt die Betreffenden auch vor Gericht.
Es wird wohl eine von Israels Verteidigungsstrategien sein, dass sehr wohl ermittelt wird und der IStGH daher keine Zuständigkeit hat. Denn es handelt sich um ein Komplementärgericht, das nur in Aktion tritt, wenn der Staat nicht in der Lage oder nicht willens ist, selbst zu handeln.
Wie beispielsweise geschehen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin.
Genau. Denn es war eindeutig, dass Russland nicht gegen Putin ermitteln wird. Ähnlich war es im Sudan oder in Libyen. Für Israel trifft das aber nicht zu. Seit Jahren leitet die Armee Untersuchungen ein, wenn der Verdacht besteht, dass jemand Kriegsverbrechen begangen hat. Die israelische Führung will nicht, dass ihre Soldaten Kriegsverbrechen begehen. Daher meine ich, der Strafgerichtshof wird zu der Schlussfolgerung kommen, dass er keine Gerichtsbarkeit hat. Allerdings wird das erst geschehen, wenn die Verdächtigten verhört wurden. Vertreter des Gerichts waren nach dem 7. Oktober 2023 bereits in Israel und haben mit Untersuchungen begonnen. Darüber hinaus ist Israel keine Vertragspartei der Konvention, die den IStGH ins Leben gerufen hat. Die einzige Möglichkeit, wie die Gerichtsbarkeit erklärt werden könnte, ist die, dass die palästinensischen Gebiete Mitglied sind und die vermeintlichen Verbrechen auf palästinensischem Territorium begangen wurden.
Könnte es sein, dass es Haftbefehle gegen Hamas-Anführer, aber keine gegen die israelische Führung geben wird?
Ich glaube nicht. Denn nochmal: Es ist dem IStGH wichtig, seine Unparteilichkeit hervorzuheben und diese der Welt kundzutun.
Besteht die Möglichkeit, gegen die Ausstellung eines internationalen Haftbefehls Einspruch zu erheben?
Nein.
Neben den offensichtlichen Konsequenzen für die Personen, gegen die internationale Haftbefehle ausgestellt werden, was könnte es für den Staat Israel bedeuten?
Es besteht die Gefahr, dass manche Länder dies als Vorwand nehmen und rufen: »Aha! Israelis werden Kriegsverbrechen vorgeworfen, daher arbeiten wir nicht mehr mit ihnen zusammen.« Es könnten auch Gruppen innerhalb von Staaten ihre Regierungen drängen, nicht mehr mit uns zu kooperieren. Wir sind sehr besorgt darüber, was es alles nach sich ziehen könnte.
Könnten auch Aufrufe zur internationalen Isolierung Israels folgen?
Verbündete Staaten würden das nicht tun, andere, die sich nicht sicher sind, wie sie zu Israel stehen, aber könnten sagen: »Es ist schließlich eine Gerichtsentscheidung. Daher sollten wir Israel keine Waffen verkaufen. Oder wir verbieten Israelis ab sofort, unser Land zu besuchen.« All das ist möglich, wäre aber die Politik von einzelnen Regierungen.
Es gab Aussagen von verschiedenen Koalitionsmitgliedern in Jerusalem, sogar von Ministern, die als Aufwiegelung gewertet wurden. Beispielsweise sagte der Minister für kulturelles Erbe, Amichai Eliyahu, dass »Israel eine Atombombe auf Gaza werfen soll«. Könnte so etwas als Beweislast verwendet werden, um Haftbefehle auszustellen?
Diese Aussagen waren aufwieglerisch und hätten niemals getätigt werden dürfen. Und tatsächlich könnte es ein Faktor bei der Bewertung sein. Allerdings hat die Regierung deutlich gemacht, dass diese Personen niemals Teil des Kriegskabinetts waren und auch keinerlei Entscheidungen bezüglich des Krieges getroffen haben.
Mit dem Professor für Internationales Recht an der Hebräischen Universität in Jerusalem sprach Sabine Brandes.