Auch nach einem Jahr in Freiheit empfindet Aviva Siegel keine Freude. Nicht einen einzigen Moment. »Gefühlt bin ich noch immer in Gaza. Mit meinem Mann Keith, den Mädchen und allen anderen Geiseln«, sagt die Israelin, die Ende November nach fast zwei Monaten Geiselhaft durch einen Deal zwischen Israel und der Hamas aus dem Gazastreifen befreit wurde.
Täglich ist Siegel unterwegs, um auf das Schicksal der noch 101 in Gaza verbleibenden Frauen, Männer und zwei Kinder aufmerksam zu machen, unermüdlich kämpft sie für einen Deal, um auch sie nach Hause zu holen. Doch das sei nicht schwer. »Das Einzige, was wirklich schwer ist, ist, wenn ich Keith in meiner Erinnerung sehe, an ihn oder die Mädchen denke.« Einige der entführten jungen Frauen wurden gemeinsam mit dem Ehepaar in Gaza gefangen gehalten.
Siegel ist sehr besorgt um die Mädchen, von denen ihr eines während der Geiselhaft anvertraute, dass einer der Hamas-Terroristen sie unsittlich berührt habe. »Ich war sehr stolz auf sie, dass sie es aussprach«, so die ehemalige Geisel. Sie ist sicher, dass es weitere Fälle von sexuellen Übergriffen gegen die Mädchen gab, die sie ihr nicht erzählten, um sie nicht noch mehr zu beunruhigen.
Die Geiseln wurden gezwungen zu schweigen
Siegel weiß aus eigener Erfahrung: »Die Geiseln wurden gezwungen, so zu tun, als sei alles in Ordnung, sogar, nachdem ihre Entführer sie misshandelt hatten. Sie wurden zum Schweigen gezwungen und duften nicht miteinander sprechen. Sie wollten nur weinen und durften nicht weinen.«
Auch ihrem Mann Keith sei aufgetragen worden, so zu tun, als wäre nichts geschehen, auch nachdem seine Entführer seinen gesamten Körper rasierten, um ihn zu demütigen.
Eindringlich schildert Siegel auch, wie schwer es sei, in Gaza unter ständigen Bombardierungen durch die israelische Armee zu leben, und erzählte von einem Fall, in dem Keith zum Verhör abgeführt wurde, nur um kurz darauf mit seinen Entführern zurückzueilen, als eine Explosion den Ort erschütterte, an dem sie festgehalten wurden. »Alle Fenster des Hauses zersplitterten, und die Tür der Dusche flog aus den Angeln. Es gibt dort keine Sekunde, in der nichts passiert. Es herrscht ständige Angst und andauernde Lebensgefahr.«
»Ich hatte solche Angst, ihn anzusehen und habe inständig gehofft, dass ich zuerst sterben würde.«
Sie habe in Gaza »den Tod gefühlt«, als Keith auf einer Matratze lag, abgemagert, verletzt und um Luft ringend. »Ich hatte solche Angst, ihn anzusehen und habe inständig gehofft, dass ich zuerst sterben würde.« Siegel forderte die Entscheidungsträger auf, endlich aufzuwachen. »Die Geiseln in Gaza zu lassen, ist das Grausamste, was man ihnen, uns und unserem Land nur antun kann.«
Am 7. Oktober vergangenen Jahres wurden mehr als 1.200 Menschen getötet und 251 als Geiseln genommen, als Tausende von Terroristen unter Führung der Hamas über die Grenze zum Gazastreifen nach Israel strömten und in Dutzenden Gemeinden im Süden Blutbäder anrichteten.
Auch Präsident Isaac Herzog warnte bei einer Veranstaltung zum Jahrestag der Befreiung, dass es ein bleibendes Trauma für das Land hinterlassen würde, wenn die Geiseln nicht zurückgeholt werden. Er betonte die Verantwortung des Staates. »Wir müssen verstehen und verinnerlichen, dass wir, wenn wir sie nicht nach Hause bringen, mit einer blutenden, offenen Wunde zurückbleiben, die unsere Seelen als Gesellschaft und als Nation für immer verbrennen wird«, hob Herzog hervor.
Identität und Würde der Geiseln werden jeden Tag zerstört
Danielle Aloni, die mit ihrer fünfjährigen Tochter Emilia entführt und nach 49 Tagen freigelassen wurde, sprach bei der Zeremonie »von der zunehmenden Gefahr«, der die noch immer festgehaltenen Menschen jeden Tag ausgesetzt sind. »Sie erleiden körperliche, sexuelle und psychische Misshandlungen, ihre Identität und Würde werden jeden Tag aufs Neue zerstört«.
»Die israelische Regierung brauchte etwa zwei Monate, um einen Deal zustande zu bringen, um uns herauszuholen. Warum dauert es über ein Jahr, und es gibt noch kein weiteres Abkommen, um die andern aus der Hölle zu bringen?«, fragte Aloni, deren Schwager David Cunio, sein Bruder Ariel Cunio und dessen Lebensgefährtin Arbel Yahud noch immer in Gaza sind.
Sie betonte, dass sie und die anderen Geiseln zwar vor einem Jahr ihre Freiheit erlangten, »aber wir die Tunnel noch nicht wirklich verlassen haben«. Sie bezog sich dabei auf die unterirdischen Terrortunnel der Hamas, in denen viele der Geiseln festgehalten wurden. »Das Gefühl des Erstickens, die schreckliche Feuchtigkeit, der Gestank – diese Empfindungen umhüllen uns immer noch jeden Tag«, so Aloni. »Wir sind noch immer in den Tunneln gefangen.«