Die Israelis leiden. Sogar Menschen, die nicht direkt dem Horror des 7. Oktober ausgesetzt waren, haben eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) entwickelt. Eine aktuelle Studie fand anhand von Smartwatch-Daten heraus, dass fast ein Viertel aller erwachsenen jüdischen Israelis (23 Prozent) diese Diagnose erhalten würde.
Die hohe Inzidenz ließe sich durch stark erhöhten Nachrichtenkonsum und vor allem durch die Verfügbarkeit blutrünstiger Videos in den sozialen Medien erklären, so das Ergebnis der Gemeinschaftsuntersuchung der Universitäten Tel Aviv und Stanford sowie der Gesundheitsunternehmen-Firma Wizermed. Es wurde auch festgestellt, dass nach den Gräueltaten der Hamas-Terroristen etwa 55 Prozent der jüdischen Erwachsenen in Israel unter klinischen Angstzuständen unterschiedlicher Schwere leiden. Bei 23 Prozent von ihnen ist die Schwere mittel bis hoch. Zum Vergleich: Kurz nach dem Einsturz der Türme des World Trade Center am 11. September litten 7,5 Prozent der New Yorker unter ähnlichen Symptomen.
Diddy Mymin Kahn, klinische Psychologin und Traumaspezialistin, beschäftigt sich als professionelle Beraterin für die Hilfsorganisation IsraAID mit den Auswirkungen des 7. Oktober und arbeitet vor allem mit den Menschen aus der unmittelbar betroffenen Region am Gazastreifen zusammen. Mymin Kahn ist außerdem die Gründerin und Geschäftsführerin von »Kuchinate«, einem Kollektiv für geflüchtete Frauen aus Afrika.
Frau Mymin Kahn, sehen Sie die Zahlen der Studie in Ihrer täglichen Arbeit bestätigt?
Es ist etwas anderes, ob bei jemandem PTBS diagnostiziert wurde oder ob er unter immensem mentalen Stress leidet. Posttraumatische Belastungsstörung ist eine Diagnose bei einem bestimmten Cluster von Symptomen nach einer Traumatisierung. Was man allerdings sagen kann: Wir sind »post« gar nichts. Wir sind mitten im Trauma. Es sind noch nicht alle Geiseln befreit, wir befinden uns im Kriegszustand, viele Eltern haben Kinder, die in Gaza und im Norden kämpfen. Dabei habe ich noch nicht einmal erwähnt, dass auch alle Familien und Freunde der befreiten Geiseln betroffen sind – und natürlich diese selbst. Hinzu kommen alle Bewohner aus dem Otef, also allen israelischen Gemeinden, die sich wenige Kilometer von Gaza befinden, und die aus dem Norden, die evakuiert wurden. Doch auch Menschen, die nicht direkt zu diesen Zirkeln gehören, können Symptome entwickeln. Also ja, viele Menschen hier leiden seit dem 7. Oktober unter verschiedenen mentalen Schwierigkeiten.
Ist bereits abzusehen, ob dies für viele Menschen ein andauernder oder zumindest langwieriger Zustand sein wird?
Das können wir noch nicht wissen, da wir uns in einer Situation befinden, die anhält. Viele werden sich erholen, weil wir über einen internen Mechanismus verfügen, der dabei hilft, zu einer Balance zurückzufinden. Allerdings gehen wir davon aus, dass bis zu 15 Prozent tatsächlich dauerhaft unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung leiden werden.
Was macht das traumatische Ereignis des 7. Oktober so außergewöhnlich?
Es ist eine derart ungewöhnliche Situation mit permanentem chronischen Stress. Es ist nicht so wie etwa bei einem zerstörerischen Hurrikan, der kommt und wieder endet. Wir befinden uns in einem andauernden Krieg, der sogar so etwas wie eine Routine des Traumas mit sich bringt. Das ist ein Begriff, der im Otef benutzt wird, denn die Menschen dort leiden seit Jahren unter den immer wiederkehrenden Sirenen bei Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen.
Sehen Sie Unterschiede im Befinden der Menschen direkt nach dem 7. Oktober und heute?
Auf jeden Fall. Die Menschen kehren zu einer gewissen normalen Routine zurück. Auch die Evakuierten aus dem Otef müssen arbeiten gehen. Allerdings gibt es ein großes Missverhältnis zwischen dem, was sie tun, und dem, was sie fühlen. Viele empfinden Schuld, wenn sie irgendetwas tun, das an Normalität erinnert, solange es noch Geiseln in Gaza gibt. Und doch haben sie keine Wahl, sie müssen früher oder später wieder eine gewisse Routine aufnehmen.
Gehört das Gefühl von Schuld zu jedem Trauma?
Ja, tatsächlich. Viele der Betroffenen fühlen sich schuldig für irgendetwas. Entweder, dass sie überlebt haben, während andere ermordet wurden, dass sie in Freiheit sind und andere nicht, oder einfach schuldig, dass ihnen ein normales Leben möglich ist. Besonders bei Soldaten treten häufig Schuldgefühle auf, dass sie nicht genug getan haben, um Menschen zu retten. Es gibt viele Stufen der Schuldgefühle. Das ist sehr komplex.
Wie helfen Sie Menschen, die die Massaker der Hamas überlebt haben?
Die angebotene Hilfe verläuft in mehreren Phasen. Am Anfang war es so etwas wie eine »emotionale Erste Hilfe«. Dabei ging und geht es hauptsächlich darum, die Menschen zu stabilisieren, damit sie nicht noch weiteren Schaden nehmen. Im Laufe der Zeit erkennt man, wer professionelle und spezielle Hilfe braucht und wer nicht. Einige Therapien gelten als Goldstandard für die Behandlung bei PTBS, beispielsweise EMDR (EMDR steht für »Eye Movement Desensitization and Reprocessing«, in etwa Desensibilisierung und Aufarbeitung durch Augenbewegungen, das seit Mitte der 90er-Jahre in der Traumatherapie erfolgreich eingesetzt wird, Anm. d. Red.) und andere standardisierte Protokolle.
Ist Traumatherapie eher standardisiert oder sehr persönlich?
Es gibt eine standardisierte Routine, aber die Therapieangebote hängen sehr von verschiedenen persönlichen Faktoren ab, etwa, welche persönliche Geschichte und welches Unterstützungsgefüge die Person hat. Letzteres ist extrem wichtig, um eine weitere Verschlimmerung zu verhindern und wieder gesund zu werden. Doch jeder Mensch ist anders. Manche brauchen vielleicht eine fokussierte Therapie wie EMDR, andere einen holistischen und langfristigen Ansatz.
Wie sehr spielt Resilienz, also die Widerstandsfähigkeit, eine Rolle in der Traumatherapie?
Sie spielt eine sehr wichtige Rolle. Allerdings schließen sich Resilienz und Trauma nicht aus. Jemand kann widerstandsfähig und zur selben Zeit traumatisiert sein. Doch mit Resilienz bekommt man mehr Werkzeuge an die Hand und wird eher in der Lage sein, im Alltag mit dem Trauma umzugehen. Resilienz-Aufbau kann durch viele Dinge geschehen, Gesprächs- oder Kunsttherapie, Körperbewusstseinstherapie, Gärtnerei, Reiten oder einfach das zu tun, was man bereits vor dem Trauma als hilfreich empfand. Allerdings können Menschen nicht allein resilient werden. Sie brauchen die Gesellschaft, die ihnen dabei hilft. Es ist erwiesen, dass resilientere Menschen eine andere Perspektive auf das Leben entwickeln – und so ermöglichen, dass das Trauma nicht alles zerstört, was zum Leben gehört.
Mit der Psychologin sprach Sabine Brandes.