Nahost

»Wir sind eine Familie«

»Wir wollten Frieden und Stabilität in der Region – und wir haben eine Vision für die Zukunft«: Botschafterin Hafsa Al Ulama Foto: ddk

Frau Botschafterin, seit dem Friedensschluss zwischen den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) und Israel gibt es eine sehr dynamische Entwicklung der Annäherung. Wie bewerten Sie das?
Ich bin sehr froh darüber. Die Vereinigten Arabischen Emirate feiern im nächsten Jahr ihr 50-jähriges Bestehen. Wir sind ein junges Land, entwickeln uns, lernen ständig dazu. Aber was wir immer hatten, sind unsere Werte und Prinzipien: Toleranz und Koexistenz. Mehr als 80 Prozent der Menschen in unserem Land sind nicht in den Emiraten geboren, sie kommen aus der ganzen Welt. Wir waren immer offen und akzeptieren den jeweils anderen.

Wie kam es zum Frieden mit Israel?
Ein Land zu ignorieren, das existiert, passte nicht zu unserer Vision. Und dann gab es auch irgendwann erste Kontakte mit Israel und seit einiger Zeit Kooperationen, zum Beispiel im Energiesektor. Wir fühlten, dass die Menschen den Austausch wollten, aber die Politik stand im Weg. Der Grund waren die Auseinandersetzungen in der Region, der jahrzehntelange Konflikt mit den Palästinensern. Aber wir sind ein souveränes Land. Wir brauchten einen mutigen Schritt und jemanden, der ihn unternimmt. Das war unser Kronprinz, Scheich Mohammed bin Zayed. Er sagte: Lass es geschehen, warum sollten wir uns verstecken? Wir machen nichts falsch. Im Gegenteil: Wir tun etwas sehr Positives für die Zukunft. Und so passierte es.

Was verbindet beide Länder?
Beide Länder sind nicht sehr groß, wir haben etwa die gleiche Bevölkerungszahl. Es sind junge Länder, die wirtschaftlich vergleichbar ausgerichtet sind. Wir haben die gleichen Ziele für die Zukunft, konzentrieren uns auf Erziehung, Gesundheitsversorgung, Innovation, erneuerbare Energien. Es gibt so viele Gemeinsamkeiten, dass es keinen Sinn machte, diesen Schritt nicht zu tun.

Das sehen nicht alle Länder der arabischen Welt so. Warum haben ausgerechnet die Emirate diesen Schritt unternommen?
Unser Land entstand 1971 als Föderation von sieben Emiraten, die unabhängig waren. Schon damals brauchte es eine visionäre Führungspersönlichkeit, um sie zusammenzubringen. Und auch damals hatten viele Nachbarn Zweifel. Sie meinten, diese Einheit werde nicht lange anhalten. Aber es sind nun schon fast 50 Jahre, und wir werden gemeinsam immer stärker. In unserem Teil der Welt ist visionäre Führung sehr wichtig.

Es braucht sicherlich auch die Vision des Friedens, die selten anzutreffen ist in diesem Teil der Welt.
Stimmt. Dabei kommen alle Propheten aus unserer Region. Sie kamen aus der Wüste. Und es gibt eine Weisheit der Wüste. Die werden nicht alle verstehen, aber die, die sie verstehen, werden sehr erfolgreich sein. Daran glaube ich wirklich. Scheich Zayed, der Begründer unserer Nation, hat dies zusammengebracht auf Grundlage von Stabilität, Toleranz und Koexistenz. Zu Beginn war dies ein recht armes Land. Wir mussten und wollten unsere Türen für andere öffnen, um gemeinsam zu wachsen, in Koexistenz und ohne Rücksicht auf Herkunft, Hautfarbe, Religion. Es kamen viele Menschen aus unterschiedlichen Regionen des Kontinents, zum Beispiel aus Indien und Pakistan. Alle leben in Frieden zusammen. Wir sind sehr pragmatisch und wissen, dass man nicht allein in einer Blase existieren kann. Nicht zuletzt hat uns die Covid-Pandemie dies nochmals vor Augen geführt: Man muss kommunizieren. Niemand kann behaupten: Corona ist nicht mein Problem. Wir sind Teil einer globalen Gemeinschaft.

Dennoch lebten die Emirate vor Kurzem noch offiziell im Kriegszustand mit Israel.
Ja, es brauchte Zeit. Unser Land existiert noch nicht einmal 50 Jahre. Wir mussten uns erst um die Grundlagen kümmern, Schulen, Krankenhäuser und so weiter. Und erst allmählich beginnt man, über seinen Platz in der Welt nachzudenken. Was soll die Rolle sein? Dann denkt man über das größere, gesamte Bild nach. Und da kamen wir an den Punkt, an dem wir wussten, dass es nicht passt, in feindlicher Beziehung zu verharren.

Der am 15. September unterzeichnete Friedensvertrag wird »Abraham-Abkommen« genannt. Warum der Bezug zum biblischen Urvater?
Weil wir aus den abrahamitischen Religionen kommen. Alle Propheten – wir haben mehr als 2000 im Koran – kommen aus dem Judentum. Nur der Prophet Mohammed nicht. Aber auch Jesus, der das Christentum begründete, war jüdisch. Wir sind eine Familie. Wir gehören eigentlich einem Volk an.

Der Kronprinz hatte 2019 zum »Jahr der Toleranz« erklärt, ebenfalls in diesem Jahr erkannte die Regierung die jüdische Gemeinde im Land an. Garantieren die Emirate als muslimisches Land die Religionsfreiheit?
Unsere Regierung unterstützt jüdische Einrichtungen. Auch steht bei uns einer der größten Hindu-Tempel der Region. Es gibt viele Kirchen der verschiedensten christlichen Richtungen. Mein Cousin, ein Muslim, hat eine katholische Schule in Dubai besucht. So ist es bei uns, so sollte es auf der ganzen Welt sein. Und wir haben ein Gesetz gegen jegliche Diskriminierung, sei es Geschlecht, Rasse oder Religion. Auch wenn das Land Teil der islamischen Welt ist, darf man bei uns nichts Schlechtes über die Religion eines anderen sagen, sonst kann man verklagt werden.

Seit dem Friedensschluss wird ein großes Interesse am Judentum deutlich. Zum Beispiel hat Ministerin Shamma Al Mazrui sich kürzlich als »new student of the Jewish tradition« bezeichnet und den »Wisdom of Shabbat« gelobt. Wie ist das zu erklären?
Es gab eine Art Sehnsucht. Die politische Seite öffnete die Möglichkeit zum Austausch, der nur darauf wartete, endlich stattfinden zu können. In vielen Fällen gibt es zwischen Völkern nur einen kalten Frieden. Die Regierungen treffen Übereinkünfte, und das Volk sieht keine wirkliche Verbindung. Hier ist es anders. Viele von uns in den Vereinigten Arabischen Emiraten waren in der weiten Welt unterwegs, ich hatte Lehrer in den USA und Großbritannien, die jüdischen Glaubens waren. Die Gründer und Unterstützer der größten Universitäten dort waren Juden. Die Menschen bei uns haben eine positive Einstellung dem Judentum gegenüber. Wir wissen um die großen Leistungen in Medizin und Wissenschaft. Und dann schaute man auf die Politik und fragte sich: Warum kämpfen wir gegeneinander? Dieser Widerspruch war da. Jetzt ist die Tür geöffnet.

Religionen sind leider häufig Grund für Kriege und Konflikte. Nicht nur Europa kämpft derzeit gegen islamistischen Terror. Wirkt Religion jetzt friedensstiftend?
Religionen wurden und werden als Geisel genutzt. Das müssen wir bekämpfen, so wie jede Art von Extremismus. Menschen missbrauchen die Religion für wirtschaftliche und kriminelle Zwecke. Es ist so einfach, etwas »im Namen der Religion« zu tun. Und leider gibt es einige Länder in unserer Region, die das unterstützen.

Sie meinen dennoch, dass andere im Nahen Osten Ihrem Beispiel folgen?
Mutige und visionäre Führungspersönlichkeiten unternehmen mutige Schritte. Und immer, wenn man eine große Idee verfolgt, gibt es eine Menge Widerstand. Aber wir sollten davor nicht zurückschrecken. Wer sich an die Spitze einer guten Bewegung stellt, wird eine schwere Zeit haben. Aber die Ergebnisse zählen. Seit der gegenseitigen Anerkennung Israels und der Vereinigten Arabischen Emirate sind erst zwei Monate vergangen, dennoch sind bereits so viele Vereinbarungen unterzeichnet worden. Das ist ein so positives Beispiel. Die anderen Länder werden folgen, weil wir eine Alternative aufgezeigt haben. Alle Kräfte der Dunkelheit, des Extremismus und Terrorismus sehen sich der Kraft des Lichtes gegenüber. Auch viele Palästinenser werden diese positive Entwicklung sehen. Es braucht Zeit, wir müssen Geduld haben. Aber wir dürfen nicht unser Ziel aus den Augen verlieren.

Das erste Treffen der Außenminister beider Länder fand kürzlich in Berlin statt. Spielt Deutschland bei dieser durch die USA ermöglichten Annäherung irgendeine Rolle?
Ich glaube, Deutschland und Europa kommt eine wichtige Rolle im Nahen Osten zu. So kamen die Außenminister nach Berlin. Sie hätten sich auch an einem anderen Ort, zum Beispiel in den USA, treffen können. Aber damit zeigten sie auch die Wertschätzung für Deutschlands Position und bereits gewährte Unterstützung. Davon brauchen wir jetzt noch mehr. Wir haben unsere Differenzen mit Israel mit Blick auf die Palästinenser, den Friedensprozess und die UN-Resolutionen. Aber wir können jetzt gemeinsam einen positiven Weg gehen und zusammen viel erreichen. Dies war jetzt ein »Gamechanger«. Es war, wie Bundesaußenminister Heiko Maas sagte, eine der ganz seltenen positiven Nachrichten aus der Region.

Besonders bemerkenswert war, dass die Außenminister im Zuge dieses Treffens zunächst das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas besuchten. Wie kam es dazu?
Das Erste, was unser Außenminister in Berlin tun wollte, war, zum Mahnmal zu gehen und dort Respekt zu zeigen. Scheich Abdullah bin Zayed war der erste Minister eines arabischen Landes, der das tat. Und auch das zeigt, dass wir wirklich warmen und starken Frieden zwischen unseren beiden Völkern wollen.

Bislang betrachten Berlin und Brüssel den Konflikt mit den Palästinensern noch immer als das zentrale Thema im Nahen Osten. Erst müsse dieser Konflikt gelöst werden, dann alle anderen Fragen. Sollten die deutsche und die EU-Politik nicht endlich umdenken?
Ich denke, das wird geschehen, sobald die Menschen Resultate sehen. Wir müssen anderen nichts vorschreiben. Die Länder sind frei, ihre Außenpolitik zu gestalten. Und wer meint, wir hätten die Palästinenser vergessen, der irrt. Wir gehörten immer schon zu ihren wichtigsten Unterstützern. Aber dass Israel die Annexion von Gebieten in der Westbank gestoppt hat, ist doch ein großer Schritt, den wir auf friedlichem Weg erreicht haben, nicht durch Krieg. Wir wollten Frieden und Stabilität in der Region – und wir haben eine Vision für die Zukunft. Wir haben Wüste, Israel auch. Dort gibt es jede Menge Kenntnisse in Fragen der Landwirtschaft und Bewässerung, die wir teilen können und auf Basis derer wir zusammenarbeiten können. Wir sind ein sehr pragmatisches Land, kein ideologisches. Das möchte ich betonen. Was Sinn macht, was für die Zukunft unserer Kinder gut ist, werden wir tun.

Inzwischen haben Sie schon mehrfach Ihren Kollegen, den israelischen Botschafter Jeremy Issacharoff, getroffen. Er hat nach einer ersten Begegnung getwittert: »Peace is breaking out in Berlin!« Wie lautet Ihre Nachricht?
Das ist der richtige, ja, ein historischer Schritt. Wir bauen dadurch etwas sehr Großes für den Frieden in der Welt. Und es ist ein Beginn, andere Schritte werden folgen. Jetzt ist die Zeit für die Kräfte des Lichts.

Mit der Botschafterin der Vereinigten Arabischen Emirate sprach Detlef David Kauschke.

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